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Nachtleben
(von DJ Sans Soleil)

I. Einleitung und Theorie

Was ist los mit dem Nachtleben? Die Krisenphänomene (leere Straßen, leere Clubs)  sind unübersehbar und keineswegs lokal beschränkt. Was jahrzehntelang funktionierte, klappt offensichtlich nicht mehr. Es scheint, als würden die Menschen die Erfindung des nächtlichen Kollektivs langsam einsparen. Da die Dinge nicht mehr automatisch funktionieren, sollte man vielleicht einmal darüber nachdenken, worum es im Nachtleben eigentlich geht. Die unreflektiert euphorischen Selbstbeschreibungen der Clubszene in Flyern und Magazinen scheinen jedenfalls schon seit längerem ins Leere zu laufen (und sie machen vor allem keinen Spaß mehr). Seit einiger Zeit steht nun mit der neueren Systemtheorie ein kooles theoretisches Handwerkszeug zur Verfügung, das in solchen Fällen doch beträchtlichen analytischen Gewinn ermöglicht. Dazu führe ich einige grundlegende theoretische Vorbedingungen ein, um den veränderten Blickwinkel auf die später hauptsächlich behandelte Clubkultur zu verdeutlichen. Verschiedene Aspekte z.B. DJ-Culture beschreibe dabei mit wesentlich geringerer Distanz, da ich mich doch ein gewisser Ärger antrieb, der damit nun genügend abgehandelt sein dürfte. Bei der Systemtheorie will ich jedoch nicht stehen bleiben. Sie ist vielmehr ein zeitgemäßes Level, das es ermöglicht, alles zu beschreiben, was Gegenwart ausmacht. Von dort ausgehend sollte man aber dann die Frage in den Blick nehmen, wie man denn in der Gegenwart ein gutes Leben führen könnte.

Alle etablierten Formate für Gegenwartswissen, seien es wissenschaftliche Papers, seien es Artikel in Zeitgeistmagazinen, seien es Zeitschriftenartikel sind in ihrer jeweiligen spezialisierten Form beschränkt und damit einseitig. Diese engen zielgruppenspezifischen Ansätze reichen für sich gesehen schon lange nicht mehr aus, Gegenwart zu beschreiben. Ist das Format perfekt einzuordnen, tritt ein äußerst unangenehmes Phänomen auf: Langeweile. Man achtet stärker auf die Anpassungen an dieses Format und seine Defizite, als auf die mitgeteilten Informationen. Dieses Spezialistentum genügt immer größeren Kreisen nicht mehr.Doch sind Formate, die eine solche Entwicklung berücksichtigen, noch kaum in Sicht (Ausnahme vielleicht im Internet z.B. telepolis). Ein bemerkenswertes Beispiel für den erfolgreichen generalistischen Ausbruch aus ausgetretenen Formaten ist die Harald-Schmidt-Show. Dort wird man (insbesondere bei den Filmberichten) fast täglich mit wechselnden Formaten konfrontiert. Besonders wegweisend sind die Ideen, das eigene Medium auf überraschende Weise gewinnbringend selbst zu thematisieren. Diese Entwicklung zu immer höherer Selbstreferenz ist ein wichtiger gesellschaftlicher Entwicklungsstrang. Statt einfach nur Realität abbilden zu wollen, spielt das Medium selbstironisch mit seinen zahlreichen etablierten Formaten zur „Realitätsabbildung“. Dieser steigende Selbstbezug geschieht im Umfeld einer zunehmenden Vernetzung zwischen den Einzelkategorien. Gebündelt wird dies durch eine Perspektive eines Autors oder einer Redaktion wie beim Ironiesystem des Harald Schmidt. Nennen wir es einen gut gemachten neuen Generalismus. Es ist die jeweilige Perspektive, die die punktuellen Ereignisse der Welt zu einer wirksamen Wirklichkeit macht. Dieser Text versucht, diesen Weg einzuschlagen, nur soll nicht vorrangig Entertainment, sondern pragmatisches Gegenwartswissen anvisiert werden.

Soziale Systeme

Die Ausgangsüberlegung ist folgende: es gibt im Nachtleben verschiedene soziale Systeme, wie es im Tagesleben unterschiedliche soziale Systeme gibt, z.B. ein Wirtschaftssystem, Wissenschaftssystem, Rechtssystem, Massenmedien, usw. Erkennbar ist das jeweilige Teilsystem an seiner Leitdifferenz, einem primären Code, um den sich alle weiteren Unterscheidungen herum gruppieren. Der lautet haben / nicht haben in der Wirtschaft, wahr / falsch in der Wissenschaft, legal / illegal im Rechtssystem, Information / Nichtinformation im System der Massenmedien, gewinnen / verlieren im Sportsystem usw. Nun sind diese vorwiegend tagsüber stattfindenden Teilsysteme der Gesellschaft natürlich wesentlich ausdifferenzierter als das Nachtleben mit seinen stark heterogenen Ausprägungen. Jedes dieser Teilsysteme hat eine bestimmte Funktion. So stellt das Wirtschaftssystem eine Verrechnungsmöglichkeit verschiedener Leistungen und Produkte zur Verfügung, stellen die Massenmedien die Informationen für die Gesellschaft bereit, soll uns das Rechtssystem mit Rechtssicherheit versorgen, ist Wissenschaft die Instanz für die Überprüfung von Wissen usw. Der entscheidende Punkt ist aber, daß tatsächlich alle Kommunikationen, die unter einem primären Code ablaufen, gebündelt werden zu einem System wie Wirtschaft, die Wissenschaft usw. Das bedeutet: jede Kommunikation, die den Code wahr / falsch benützt, begründet das Wissenschaftssystem. Beim Nachtleben tritt daher eine gewisse Schwierigkeit auf, denn nicht alle Kommunikationen, die dem gleich eingeführten dominanten Code entsprechen, finden nachts statt.

Man sollte daher (um dem hier verwendeten Luhmannschen Theorieschema nicht allzu deutlich zu widersprechen) das Nachtleben als Spezialfall eines allgemeineren Prinzips, des mythischen Systems bezeichnen. Ein mythisches System folgt keiner ausgeprägten Linearität, wie beispielsweise einer Schriftlichkeit (daher wird dieser Text wohl auch kaum im Nachtleben selbst gelesen werden können) sondern einer magischen bildhaft-assoziativen Ereignishaftigkeit und seinen Erfahrungen des Eins-Seins-mit-der-Welt. Der häufig gelesene Vergleich der Raves mit vorgeschichtlichen kultischen Handlungen war daher nicht unklug. Da ich aber über das Nachtleben und besonders über den bislang vielleicht interessantesten Spezialfall, nämlich den der Clubkultur, schreiben will, führe ich dieses mythische System zwar in seinen Phänomenen in den Clubs immer wieder an, befasse mich aber in diesem Text nicht weiter mit seiner generellen Beschreibung. Natürlich mutet ein Begriff wie das mythische System wie ein Paradox erster Klasse an. Entweder man wendet einen Code an, der ein System bildet oder aber man schwelgt im Eins-Sein-mit-der-Welt. Beides zusammen geht nicht. Und doch geht es im Nachtleben durchgängig um eine Annäherung an die Grenze des mythischen Erlebens im Sinne eines Beinahe-aber-noch-nicht-ganz. Also kann hier eine solche Wortschöpfung doch einigen Erklärungswert besitzen. Wenn man so will, könnte man das mythische System als säkularisiertes Religionssystem begreifen.
 
Der Code des Nachtlebens
 
Worum geht es nun eigentlich im Nachtleben? Was ist sein Code, an dem sich alle Kommunikationen orientieren? Was ist seine Funktion? Dies ist bereits ein sehr heikler Punkt, an dem man streng genommen gleich wieder aufhören könnte. Denn es wird in modernen Gesellschaftstheorien häufig angezweifelt, daß es einen klaren Code für die Freizeit gibt, zu der man ja das Nachtleben zählen muß. Zu viele völlig unterschiedliche Freizeitaktivitäten (Schlafen und Extremsport, Fernsehen und nachts Ausgehen) sind schwer nur mit einem Code zu erfassen. Man kann lediglich von einer generellen Ausgleichsfunktion für die während der Arbeitszeit nicht angesprochenen Persönlichkeitsteile sprechen. Trotz dieser Vielzahl von Phänomenen will ich versuchen, einen Code für das Nachtleben zu formulieren, um zu sehen, wie weit man damit kommt.
 
Man hätte glauben können, daß es sich dabei um den Code hip / unhip handelt, doch der ist in seiner Mainstreamform in / out eher dem Modesystem vorbehalten. Und längst nicht alles, was nachts an Kommunikationen abläuft, gehorcht diesem Code (siehe die Kommunikationen in Eckkneipen). Die Clubszene konnte sich natürlich nur mit der fortgeschrittenen Version des hip / unhip zufriedengeben, obwohl keiner wirklich genau den Unterschied benennen kann. Nachdem bereits in den Sechzigern die Unterscheidung in / out geläufig wurde, mußte die Jugendkultur natürlich ein anderes Begriffspaar betonen, das der gewünschten Abgrenzung zur Mainstreamkultur wieder entsprach. Und sie hatte Erfolg damit: hip / unhip blieb bis heute genau in den dafür vorgesehenen Kreisen. Aber um den Phänomenen des Nachtlebens gerecht zu werden, benötigt man einen erweiterten, dadurch vielleicht etwas diffusen Code. Nach längerer Überlegung fiel meine Wahl auf eine sehr alte Unterscheidung rauschhaft / nicht rauschhaft (wie bereits in Nietzsches Unterscheidung dionysisch - apollinisch angelegt). Dadurch unterscheiden sich in der Regel nächtliche Kommunikationen von Tageskommunikationen.

Die heterogenen Nachtlebensysteme bestehen wie alle sozialen Systeme aus Kommunikationen, obwohl sich ihr Code wie kaum ein zweiter auf Rauschzustände beziehen soll, die sich dem Verständnis sprachlicher Kommunikation entziehen. Der Rausch ist natürlich der Zustand, in dem Differenzen wieder aufgelöst werden sollen und zumindest eine gewisse Verbundenheit mit der Welt angestrebt wird. Verlangt wird also - wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens - ein gesteigertes Auflösungs- und Rekombinationsvermögen, nur betrifft es im Rausch nicht nur die Person (in der hochspezialisierten Arbeitswelt bekommt man nur die Person und nicht den Menschen in den Blick), sondern den ganzen Menschen. Rauschhaftigkeit bedeutet nun allerdings nicht, daß sich die Leute sich stets darum bemühen, völlig den Kopf zu verlieren, denn das tun nachts ja die Wenigsten. Schließlich ist seit Freud ja für die Höherentwicklung der Zivilisation eine Sublimierung der Rauschhaftigkeit eine gewisse Vorbedingung. Vielmehr ist dieser Code so etwas wie ein lockeres Grundprinzip, das in den unterschiedlichsten Zwischenstufen realisiert wird, eine Orientierungslinie für alles, was nachts kommuniziert wird. Es gibt zwar Menschen, die behaupten, daß sie nachts genau so kommunizieren wie tagsüber, aber das beweist nur einen gewissen Mangel an Sensibilität, denn die veränderten Umstände und Verhaltensweisen der Kommunikationspartner fließen in eine gut gemachte Kommunikation automatisch immer mit ein. Sonst lernt man nichts, außer vielleicht einer gewissen Manipulationsgabe.

Space is what we need, room to be

Das Nachtleben geschieht in verschiedenen Räumen: Straßen, Kneipen, Restaurants, Kinos, Konzertsälen, Privatparties, Sex-Clubs, Open-Air-Raves, Clubs. Jede Kategorie, jeder Ort und jeder Anlaß hat nun einen unterschiedlichen Ausdifferenzierungsgrad (abhängig von der Geschichte und Wiederholbarkeit, von der Stimulation durch den jeweiligen Ort, von der massenmedialen Bewerbung, von den anwesenden Personen usw.) Wer z.B. seine Nächte vor allem auf der Straße verbringt, braucht sich nicht zu wundern, wenn da keine großen Entwicklungsschritte, sondern nur kurze archaische Interaktionen möglich sind. Diese Orte lassen kaum mehr zu. Ebenso kann man in Kneipen vor allem nur das vermitteln, was man selbst mitbringt. Die Gespräche über die spezifischen Eigenheiten der Kneipe oder über das Sortiment an Getränken und Speisen bergen keine großen Ausdifferenzierungsmöglichkeiten, ohne banal zu werden. Darüber spricht man ab und zu, klar. Abendfüllend ist das aber nicht gerade. In Sachen Raumgestaltung erwies sich das Clubleben als wesentlich flexibler und entwickelte sich daher zum Motor des Nachtlebens. Gerade in Berlin bot eine jahrzehntelang vernachlässigte Stadthälfte genügend Räume für eine temporäre In-Besitznahme durch die Szene.

Wenn man sich fragt, wie man die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Nachtlebens nennen kann, kommt man auf viele mögliche Bezeichnungen: Institution, amorphes Konglomerat, Ersatzfamilie usw. Vielleicht sollten wir uns aber darauf konzentrieren, was die Grundkonstante ist: Es geht um Räume. Um Räume für die Sehnsucht nach einer etwas freieren Form der Familie. Um Räume für die Gelüste, ein mehr oder weniger sympathischer Nachfolger von Cortez und Pizarro zu sein (Stichwort Open Air Raves) Kurz: um Ereignisräume aller Art (sei es - wie in einigen Wohnzimmerbars - auch das Ereignis, garantiert keine Ereignisse erleben zu müssen)

Für die mit Beengung geplagten Großstadtmenschen, die nur wenige qm ihr eigen nennen können und wenig Ereignisräume zur Verfügung haben, an denen sie sich relativ frei bewegen können (im Gegensatz zum Kino und zum Restaurant), besorgte die Clubkultur immer wieder neue Freiräume. Allerdings waren viele Räume mit wenig Weitsicht gewählt, denn vor allem die (ehemals) berlintypische troglodytische Sehnsucht nach der Zuflucht unter der Erdoberfläche, plagte uns mit kalten Füßen und - angesichts niedriger Decken - mit eingezogenen Köpfen und Gedanken. Wenn man einen öffentlichen Raum einrichtet, muß man soviel Raumverständnis, Begeisterung, Empathie und organisatorisches Geschick aufbringen (und so auch Distinktionsgewinne gegenüber anderen Räumen erreichen), um den Raum auf gewünschten Kurs durch die Zeit zu halten. Eine gravierende Schwäche im Denk-/Gefühlssystem der Betreiber (oftmals schlicht eine erlahmte Dynamik) führt meistens dazu, daß der Raum irgendwann nicht mehr benutzt werden wollte. Es ist eine schwer nachweisbare Eigenschaft des Raumes, daß alle dort stattfindenden Vorkommnisse in seine Qualität mit eingehen. Räume erhalten durch das in ihnen stattfindende Geschehen eine Gerichtetheit, wenn man so will, eine Geschichte. Wer die Gewordenheit eines Raums nicht respektiert und doch behutsam fortwährend aktualisiert, muß erleben, wie er oft bei abnehmenden Besucherzahlen an immer weniger informierte Kreise durchgereicht wird. Die Tatsache, daß kaum ein Raum mehrere Jahre überdauert, zeigt die außerordentliche Schwierigkeit, den Spagat zwischen Traditionspflege und Erneuerung zu halten.

Die Funktion des Nachtlebens

Das vorwiegend strukturenaufbauende Tagesgeschehen erzwingt einen nächtlichen Ausgleich für die unbefriedigten Bedürfnisse der Menschen nach Spaß, Sex, lockeren Kommunikationen, Rauscherlebnissen, Abbau von Aggressionen oder einfach nur streßfreier Entspannung. Die Funktion ist also eine Bereitstellung von Möglichkeiten zur Auflösung von starren Strukturen und zu lockereren Neuverknüpfungen. Die Abgrenzungen zwischen den Menschen werden durch das nüchterne Licht verstärkt. Nachts rücken die Menschen bei gedämpften Licht dann aber näher zusammen, wollen sich kennenlernen. Es wird nämlich häufig vernachlässigt, daß das absolut Wichtigste am Nachtleben die Beziehungen zwischen den Menschen sind.

Mancher wird jetzt einwenden, daß es bei verschiedenen Tagesfreizeitaktivitäten um genau diese Rauschhaftigkeit geht (siehe Extremsportarten, Abenteuerurlaub, MTV/VIVA angucken usw.). Diese Einwände sind wichtig, weil sie die verstärkte Konkurrenzsituation markieren, in der sich das Nachtleben in einer zusehends lust- und spaßsimulierenden Gesellschaft befindet. Auch im Alltagsleben setzen sich solche Begriffe langsam fest.  Natürlich ist das nicht wirklich als Verbesserung, sondern als Verbesserungssemantik zu verstehen. Es klingt halt besser, wenn man beispielsweise „Erlebniseinkauf“ propagiert. Glauben muß man das ja gar nicht mehr, es geht ja eigentlich nur um die kurzfristige Stimulation. Man kann also auch tagsüber Phänomene beobachten, die auf das Erreichen von Rauschhaftigkeit ausgelegt sind. Doch die sind im Alltag bei hellem Licht zweifellos fehl am Platze und meist zu einem kümmerlichen Dasein verurteilt (wie das meiste Parkbankgeschehen). Es ist kaum zu bestreiten, daß dem Rausch als gesellschaftlicher Ausgleichsfunktion die Dunkelheit zugewiesen wurde. Das verdeutlicht, warum die meisten mythischen Vorkommnisse nachts geschehen. Vielleicht ist es auch bequemer so, denn die Nacht beginnt vor der eigenen Haustür. Der Wunsch, dies tagsüber zu erleben, bedarf hingegen meist weiter Reisen (Snowboard-Urlaub, Tauchurlaub usw.), nicht unbeträchtlicher Vorbereitungen (Fallschirmspringen) und nicht zuletzt gewisser Kaufkraft für die Anfahrt, Equipment usw. (nun ist es auch kein Wunder, daß man von einer boomenden Freizeitindustrie, nicht aber von einer Nachtlebenindustrie sprechen kann). Dafür wurde man dann allerdings mit einer (auch gesünderen) Erlebnistiefe belohnt, die die normalen nächtlichen Ergebnisse bei weitem übertraf.

Differenz statt Identität

Wenn wir dauernd von Codes / Leitdifferenzen und von Kommunikationen sprechen, sollte der grundsätzlich andere Ansatz noch etwas weiter ausgeführt werden. Eine Differenz ist das grundlegendere Prinzip, denn der herkömmliche Ansatz, Einheiten oder Identitäten vorauszusetzen, unterschlägt, daß man erst eine Unterscheidung gemacht haben muß, um eine Einheit (also einen Begriff, einen Gegenstand usw.) formulieren zu können. Um von Einheiten sprechen zu können, muß man sie bereits von allem unterschieden haben, was nicht diese Einheit ist (im Sinne einer Figur-Hintergrund-Unterscheidung). Daher sind alle wirklich zeitgemäßen Theorien differenztheoretisch. Die meisten Alltagsbeobachtungen gehen allerdings noch von Einheiten aus. Doch das beginnt sich zu ändern, denn es läßt sich eine vermehrte Beachtung von Differenzen im Vergleich zu kontinuierlichen Einheiten aufspüren. Jeder wird sich vielleicht an die aufbrandende Stimmung erinnern können, wenn jemand aus der tanzenden Menge auf den Tresen steigt und dort zu tanzen anfängt (siehe auch die Differenz zwischen Oben- und Untenstehenden bei der Loveparade). Ohne (nicht zu komplexe) Unterschiede tut sich hier nichts. Wie oft vergessen wird, ist der Mensch ein reines Vergleichswesen (schließlich gibt es ja auch keine einzige geeichte Instanz im Organismus).

Erst durch die Ziehung einer Differenz entstehen Welten. Wenn wir wie ein Tiefseefisch leben würden, der nie die Differenz einer Meeresoberfläche gesehen hat, würden wir nicht wissen, daß wir im Wasser leben. Was vor einer Differenz liegt, darüber gibt es streng genommen keine sprachliche Unterscheidungsmöglichkeit, also kann man nach Wittgenstein auch nicht darüber sprechen. Das ist die hypothetische Sphäre der Glaubenssätze. Es erscheint aber inzwischen wesentlich brauchbarer (weil im Gegenwartsdenken anschlußfähiger), von realistischen zu konstruktivistischen Ansichten überzugehen, die keine feste Realität, sondern nur jeweils unterschiedliche Möglichkeitshorizonte annehmen (diese Problematik der sich auflösenden Realität verdanken wir vor allem den Experimenten der Quantenphysik). Jedes selbstorganisierte System kann nicht anders, als durch jede einzelne aktuelle Differenzziehung seine eigene Wirklichkeit zu konstruieren. Gemäß Luhmann ist diese Operation der Differenzziehung das Einzige, was die Bezeichnung real verdient (also nicht das voneinander Unterschiedene, sondern der Akt des Unterscheidens). Obwohl dies den meisten irgendwie schon bekannt vorkommen mag, haben es doch nur Wenige wirklich realisiert, daß nur sie gemäß ihrer eigenen Perspektive ihre eigene Wirklichkeit, ihre eigenen Unterscheidungen erzeugen.

Im Konstruktivismus (vor allem bei Heinz von Förster) wird deutlich, daß die Verschleierung der Perspektive des Beobachters die Illusion von objektiven Tatsachen und Wahrheiten erzeugt, die Menschen ihr Recht zu eigenen Beobachtungen abzusprechen versucht. Wahrheit ist demnach also eine Erfindung eines Lügners, der mitunter diese  Wahrheit dann gerne dazu hernimmt, den anderen auf den Kopf zu schlagen. Es ist aber eine immer weiter um sich greifende Einsicht, daß man von keiner Informationsübertragung von der Umwelt in den Organismus sprechen kann. Der Originalreiz geht bereits beim Eintritt in das unspezifisch codierende Nervensystem verloren. Information erzeugt der Organismus aus diesen einzelnen Nervenimpulsen auf aktive Weise selbst. Und jeder sollte sich nun fragen, ob seine Unterscheidungen denn gut oder schlecht gemacht sind. Nicht mehr im Hinblick auf Wahrheit (denn alle Unterscheidungen sind gleich „wahr“), sondern im Hinblick auf die Brauchbarkeit seiner Differenzziehung. Indizien für solche geistigen Entwicklungen kann jeder aufmerksame Beobachter immer häufiger feststellen. Es wird inzwischen stärker auf das Funktionieren, denn auf objektive Wahrheit abgestellt und es wird deutlicher auf Übergänge, Wandlungen, Neuheiten geachtet, denn auf kontinuierliche Identitäten und Ewigkeiten. Natürlich kann man weiterhin an Kontinuitäten glauben, klar. Es bringt nur immer weniger.

Kommunikation

Soziale Systeme bestehen nach Luhmann nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen, die einem jeweiligen Code folgen. Kommunikation läuft hauptsächlich über Sprache, aber auch über nichtsprachliche Gesten und Verhaltensweisen, die vom Empfänger als Mitteilung verstanden / mißverstanden und mit einer Gegenmitteilung beantwortet werden. Wichtig dabei ist nur, daß die Kommunikation weiterläuft. Dieses Hin und Her, egal ob Verstehen oder Nichtverstehen geschieht, nennt man Kommunikation. Nichtverstehen beendet Kommunikation natürlich meist schneller. Unter diese Definition fallen keine unbewußten Anpassungen an ein Gegenüber. Erst wenn man zwischen Information und Mitteilung und zwischen Mitteilung und Verstehen unterscheiden kann, wollen wir das Kommunikation nennen. Und wenn sich dieses Hin und Her um einen bestimmten primären Code dreht, wird dadurch in der Folge eine Sonderkommunikationsform und dadurch ein bestimmtes soziales System ausdifferenziert. Beispielsweise ist die Sonderkommunikationsform der Massenmedien dadurch gekennzeichnet, daß keine direkte Interaktion möglich ist, sondern sich die Feedbackschleife erst durch Verkaufszahlen und Einschaltquoten schließt. Ein soziales System existiert immer nur in der es aktuell begründenden spezifischen Kommunikation. Dies nur, um Vorstellungen von starren Strukturen überhaupt erst gar nicht aufkommen zu lassen. Man kann also je nach dem Code, dem man gerade folgt, entweder das Wirtschaftssystem, das Wissenschaftssystem usw. ausdifferenzieren. Kommunikation ist natürlich nicht nur auf Sprache beschränkt, sondern kann auch mittels Gesten, Musik, Körperbewegungen, Kunstwerken (im Kunstsystem) usw. geschehen.

Mit der Ausdifferenzierung eines sozialen Systems schwindet nahezu notwendigerweise die Betonung der aktuellen Interaktion zwischen Anwesenden. Mit der Wiederholung von gewissen Arten der Interaktion werden nämlich kontinuierliche Eigenheiten, wiedererkennbare Zeichen, vor allem aber Vergangenheiten und Erwartungshaltungen geschaffen. Es werden dann bevorzugt jene Aspekte beachtet, die über die jeweilige Situation hinausweisen (wie z.B. die eigenen Erfahrungen in vergangenen ähnlichen Situationen; man vergleicht Flyer mit vergangenen Flyern). Man bringt ähnliche Ereignisse in eine geschichtliche Reihe und wertet dadurch häufig die jeweilige aktuelle Situation ab. Die Ausdifferenzierung der Clubkultur ging hier erheblich weiter als andere Formen des Nachtlebens, denn nur diese hatte einen eigenen Boom bei der Flyergestaltung, der Plattenproduktion, der dazu eigens entwickelten technischen Apparate und nichtzuletzt der spezifischen Kommunikationen darüber zur Folge. Die Frage ist nun: Hat man es in der Clubkultur noch mit einem Interaktionssystem zu tun (das auf die Beteiligung der Anwesenden abgewiesen ist) oder sind die Ausdifferenzierungs- und Geschichtsbildungsprozesse so weit fortgeschritten, daß man es mit einem Teilsystem der Gesellschaft zu tun hat? Ich würde es ein Mittelding nennen, denn die eigentliche Stärke und ursprüngliche Intention der Clubkultur war, auf das Anwesende Bezug zu nehmen, doch dies ist immer seltener der Fall. Die Definition eines Teilsystems der Gesellschaft, daß es auch ohne die körperliche Anwesenheit der Beteiligten auskommt (ein Richter kann einen Angeklagten auch verurteilen, ohne daß er anwesend ist, das Urteil gilt trotzdem), ist vielleicht in der Clubkultur noch nicht gegeben, doch die abnehmende Beachtung der gegenwärtigen Interaktion ist allzu deutlich und droht der Clubkultur inzwischen massiv zu schaden.

II. Clubkultur

Mit diesen theoretischen Vorbedingungen versehen, interessiert mich jetzt im wesentlichen ein spezieller Teil des Nachtlebens, die Clubkultur. Sie hatte vor allem im letzten Jahrzehnt mehr als jeder andere Aspekt des Nachtlebens eine gewaltige Ausdifferenzierung erfahren. Das lag vor allem daran, daß die Jugendlichen diese Angelegenheit komplett selbst in die Hand nahmen. Doch diese Entwicklung könnte sich, wie bei Euro-Dance / Boy Group - Teeniegroßveranstaltungen bereits geschehen, wieder umdrehen.  DJ-Culture, Fortschritte in der Veranstaltungstechnik und -organisation, kompetenter Umgang mit Verbreitungsmedien und Geschicklichkeit in der Suche nach immer neuen Veranstaltungsorten und Ecstasy-Hochkultur waren einige der Grundbedingungen des Aufschwungs. Nun, daran hat man sich inzwischen weitgehend gewöhnt und vielleicht sollte man sich jetzt genau ansehen, wie es gegenwärtig aussieht.

Clubkultur galt in der klassischen Soziologie als Übergangsstadium der Jugendlichen, in dem der Lebenspartner gefunden werden sollte und wurde als Ausdrucksmöglichkeit mittlerer bis unterer Sozialschichten gesehen. Der durch die Technogeneration geprägte Begriff „raving society“ zeigte an, daß diese klassische Beschreibung schon eine Weile nicht mehr ausreichte (wenn auch die Übervierzigjährigen immer noch eher spärlich vertreten sind). Einerseits war damit gemeint, daß sich das rauschhafte Prinzip aus dem Clubleben in den Tag fortpflanzte und es andererseits nicht ausschließlich nur von Jugendlichen betrieben wurde. Und die Sache mit der Partnerfindung? Beziehungen wurden immer stärker temporalisiert, der Lebensabschnittspartner ersetzte den Lebenspartner. Was bedeutete, daß man bis ins Alter ausgedehnt und eigentlich häufiger auf die Suche gehen mußte. Und solange man nicht in der Lage ist, vielversprechende Partner auf der Straße und in der U-Bahn anzusprechen (traut sich keiner, brauchen wir gar nicht weiter darüber zu reden), sollte man das Nachtleben doch eigentlich nicht auf die Jugendzeit beschränken, oder? Die Nachtclubs haben inzwischen allerdings in Punkto Suche nach Sexualpartnern starke Konkurrenz erhalten. Man beachte nur die unzähligen gelungenen neuen Ideen, das menschliche Bedürfnis nach Sexualität in neue Marktbereiche zu locken (Phone-Sex, Sex-Urlaub, Erotik-Sendungen, Internet, Kontaktanzeigen, Single-Parties usw.) Man mußte den Sexualpartner nun nicht mehr vorrangig in den Clubs suchen. Ob das mit der Sexualität allerdings in den Neunzigern noch klappt, will ich gar nicht weiter ausführen, lediglich Baudrillards Satz anmerken: Keine Sexualität übersteht ihre Befreiung.

Codeverwechslung

Das wiederholte Mißverständnis, den in der Clubkultur primären Code rauschhaft / nicht rauschhaft durch hip / unhip zu ersetzen (eine gewisse Anfälligkeit dafür tauchte auch immer wieder in vergangenen Jahrzehnten auf (z.B. im New Wave), führte dazu, daß Bewegungen entstanden, die nicht mehr direkt den Rauschcharakter anvisierten, sondern sich vor allem auf die Erzeugung von als hip definierter Neuheit konzentrierten. Das Heer der Hip-Aussehenden folgte und bemerkte eine gewisse Zeit überhaupt nicht, daß ihnen Exstasemöglichkeiten verwehrt blieben und sie dadurch Exstasefähigkeiten verlernten. Ein Wunder ist diese Codeverwechslung nicht, denn daß der / die coole Hipster/in meist stärker begehrt wird, als der / die Exstatische hat jahrzehndelange Tradition. Wer den Film „Mephisto 68“ gesehen hat, weiß genau, was ich meine. Das Clubleben ist unter dem Druck der permanten Sensation zur leeren Apparatur geworden, in der sich selbst Hipness nicht mehr mühelos herstellen läßt.
 
Anybody seen the collective?

Nach dem Wegbrechen der großen dauerhaften Kollektive - auch des Kollektivs des „großen neuen Dings“  - sind wir plötzlich auf uns alleine gestellt. Das führt dazu, daß sich am frühen Abend große Scharen junger Menschen, die ihre Individualisierung weitgehend verwirklicht haben, in ihrer Flyer-Analyse meistens darauf konzentrieren, wo denn das große temporäre Kollektiv diese Nacht zu finden sei. Das Vielversprechendste wird dann ausgewählt. Dahinter steckt die Sehnsucht nach dem abhanden gekommenen Kollektiv, das natürlich - um nicht wieder in einen überkommenen kollektiven Zwang zu geraten - nur noch eigenverantwortlich und temporär ausgesucht wird. Selbstverständlich ist die Suche nach dem begehrtem Großereignis ein Plan, der kaum gelingen kann, denn auf den paar Highlights des Abends trampelt man sich dann zu Tode. Dieses Maß an zielgerichteter Professionalität im Aufspüren von Kollektivereignissen überrascht mich immer wieder. Anscheinend ist man ohne diese Fähigkeit so etwas wie der Analphabet der Neunziger. Diejenigen, die die Außenseitervenues aufsuchen, haben ihrerseits dann häufig mit dem schlechten Gewissen zu kämpfen, daß sie etwas verpaßt haben könnten. Außerdem standen sie so meist in halbleeren Räumen herum. Und Leere ist nicht gerade sexy.

Um viele Menschen auf eine gute Party zu vereinigen, braucht es natürlich einen Grund. Ein guter Grund war traditionellerweise die von allen erkannte Seltenheit bzw. Erstmaligkeit des Ereignisses, also beispielsweise ein internationaler Act, der für „Geschmack“ bürgen sollte. Wie man bei den Auftritten verschiedener Integrationsfiguren der Szene (Kruder & Dorfmeister, Massive Attack, Towa Tei) feststellen konnte, kam es aber dann doch immer ganz anders. Man konnte beobachten, wie die DJs angesichts der Last des (mitunter unerwartet) über sie hereinbrechenden Projektionsüberschusses zu lausigen oder banalen Sets herabgewürdigt wurden, das Publikum sich hingegen in wahren Jubelorgien eigentlich nur selbst feierte. Weil sie zu den vermeintlich Privilegierten der Nacht gehörten. Sie hatten alles richtig gemacht: Sie hatten den besten Geschmack bewiesen, kannten sich aus, was am angesagtesten war und sie waren da. Trotzdem blieb das Ganze schal.

Aber nicht nur aus diesem Grund gibt es Probleme mit der Seltenheit. Es liegt in der Natur des Systems der Massenmedien, daß öffentliche Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist und nur ganz wenige Acts die Möglichkeit haben, allgemein bekannt zu werden. Nun gibt es aber zahlreiche Clubbesitzer, die einen besonderen Act buchen wollen, da er automatisch den Laden füllt. Dieses krasse Mißverhältnis zwischen den wenigen projektiv überzeichneten Weltklasseacts und den vielen Clubs führt zu kaum mehr tragbaren Preisverhältnissen. Der Wettbewerb um die Attraktionen überreizt das Publikum, da logischerweise nur noch die Besonderheit registriert wird. Manch ein Club verbrannte sich mit etwas unbekannteren internationalen Acts die Finger. Hohe Bookingkosten konnten nicht mehr ausgeglichen werden. Ein regelmäßiges Nachtleben kann spätestens dann nicht mehr funktionieren, wenn alle Erwartungshaltungen nur auf dargebotene Besonderheiten ausgerichtet sind. Hält man sich also einige Jahre im Nachtleben auf, entsteht bald ein gewisses Problem mit der ständigen Suche nach dem Neuen. Man sollte es vielleicht ganz klar aussprechen: das Neue kommt immer seltener durch die Clubkultur in die Welt (man könnte gar die Vermutung äußern, daß es nur noch die Werbeindustrie ist, die das Bild einer funktionierenden Szenekultur erhält, weil es ein verkaufsförderndes etabliertes Image darstellt).

Was tun, wenn uns das Neue ausgeht?

Es gibt in der Informationstheorie aber zwei Faktoren, die das Maß der Bedeutung einer Information bestimmen, Erstmaligkeit und Bestätigung: Wie neu ist etwas für mich? Und wie gut paßt es zu meinen Strukturen? Beides muß hoch sein, damit etwas große Bedeutung besitzt. Es scheint, als habe sich der Schwerpunkt im Nachtleben vom deutlich dominierenden Faktor Erstmaligkeit in Richtung Bestätigung verschoben. Dieser Übergang ist unbeeinflußt vom Generationswechsel (junge Menschen sind mehr auf Erstmaligkeit aus als ältere) und wurde vom Übergang der Nichterwartbarkeit in Erwartbarkeit begleitet. Für eine sehr lange Zeit war die Nichterwartbarkeit anschlußfähiger, sie trieb wegen ihrer geheimnisvollen Verlockung sehr viele Leute quer durch das Nachtleben. Da man aber an den meisten Orten ein ähnlich diffuses Publikum vorfand, ging man dann doch wieder nur in seine Stammclubs. Vereinzelte Neueröffnungen konnten für eine Weile wieder Informationswert bringen. Inzwischen schlossen aber infolge externen Drucks (die Stadt wird enger) mehr Clubs als eröffnet wurden, und selbst auf die wenigen neuen war man immer weniger neugierig. Man ging erst dahin, wenn man von mehreren Seiten Gutes gehört hatte. Aber auch in den Kommentaren der Freunde konnte man immer häufiger Negatives und immer seltener Begeisterung heraushören. Inzwischen scheint also genau das Nichtwissen, das Unbekannte im Nachtleben weniger anschlußfähig zu sein. Denn Leute gehen nur noch dorthin, wo sie sicher wissen, daß sie etwas Nicht-Schlechtes zu erwarten haben, da sich die Nichterwartbarkeit in den seltensten Fällen als Glückgriff erwiesen hatte. Wissen sie also nichts, verlassen sie meist erst gar nicht mehr das Haus (dorthin haben sie sich zurückgezogen, von dort muß man sie wieder herauslocken; daher bekommt man immer mehr persönliche Infopost zugeschickt). Natürlich will ich damit keine völlige Erwartbarkeit befürworten, denn auf diese Weise entstehen keine bedeutsamen Informationen mehr und das Ganze wird schnell langweilig. Dies gilt vor allem in der Kurzlebigkeit des Clublebens. Man kann schließlich nie exakt zweimal den gleichen Weg zur Rauschhaftigkeit gehen. Es sollte lediglich der gegenwärtigen, ungeschickten Überbetonung auf Erstmaligkeit ein sinnvolles Gegengewicht verpaßt werden.

Vom Globalen zum Lokalen

Nach dem Abflauen der Überzeichnungen des Globalisierungswahn in der Clubkultur (z.B. multinationale Phänomene wie MTV werden durch nationale ersetzt; globale Hypes setzen sich nicht mehr so einfach durch wie früher) kann man langsam erkennen, daß jeder Ort einen Eigencharakter mit dazugehöriger Geschichte - oder genauer: erfahrungsabhängigen Ausdifferenzierungsgrad - aufweist. Es gibt eben völlig verschiedene ökologische Nischen und das wird so bleiben. Da die meisten Menschen noch nicht darauf geübt sind, Komplementaritäten wahrzunehmen, geriet die ebenso zunehmende Lokalisierung außer Acht. Globalisierung gilt eben nur vorrangig für elektronische Kommunikation und Produkte, die auch für den globalen Markt entwickelt werden. Der Rest ist unrettbar lokal. Und nachdem die Clubszene früher Vorreiter für ein globales Lebensgefühl war, ist sie jetzt möglicherweise auf dem Weg, dasselbe für ein neues lokales Lebensgefühl zu werden. Propaganda-Akte, die in der Clubszene noch einen globalen Style durchsetzen wollen, der mit den lokalen Eigenheiten nicht verknüpfbar ist, bewegen sich daher mittlerweise am Rande der Lächerlichkeit (z.B. Speed Garage).

Hier ist nun also Berlin mit seiner eigenen Geschichte, die sich im Nachtleben im Regelfall auf ein paar Jahre beschränkt. Genau die in dieser Zeit gemachten Erfahrungen muß man aufgreifen können. Jeff Koons hat das begriffen, wenn er sagt, daß man seine kitschige Vergangenheit umarmen können muß, statt sich von ihr peinlich berührt zu fühlen. Genau das ist der Ausgangspunkt. In Berlin hat man es mit einer abgeklärten Nachtlebenszene zu tun, die alles irgendwie schon weiß, alles irgendwie schon erfahren hat. Dieses Wissen ist in der Regel aber nur als Bedauern oder „Ich war dabei“-Erlebnisberichte kommunikabel. In beiden Fällen kann es jedenfalls zu keiner gelungenen Kommunikation mehr kommen. Dieses schlummernde Erfahrungswissen gilt es nun mittels Clubausstattung und durch das DJ-Set aufzugreifen und in die Gegenwart einzuweben. Nicht im Sinne einer Nostalgie, sondern um aufzuzeigen was noch alles Gegenwart sein kann, denn auch Erinnerungen geschehen immer nur im Jetzt. Die ausschließliche Orientierung am Neuen verschenkt dies nur allzu gerne.

Berlin-Dorf

Berlin - eine Großstadt? Doch größtenteils nur für die auswärts produzierenden Medien. Für die Berlinerfahrenen wirkt es längst wie ein Dorf. Um die von aufreizender Propaganda ermüdeten und zur Reflektion gezwungenen Einheimischen wirklich zufrieden zu stellen, braucht es etwas, das die selbstverschuldete oder zumindest mitgeglaubte Entfremdung durch den fortwährenden Berlin-Hype überwindet. Das könnte etwa zur finalen Einsicht führen, daß man an einem festen Ort lebt, den man nicht nur ständig zum eigenen Mißvergnügen für die große weite Welt halten sollte. Das legt nahe, Berlin als Dorf zu sehen. Ein Dorf braucht mehr Dorf-DJs. Unser Dorf soll schöner werden! Und wie wird es das? Es benötigt Orte, an denen man sich als Wissende aufhalten kann, innerhalb von Umständen, die man wirklich will. Die Entwicklung zu einem beschaulichen Ort an jeden Wochentag ging diesen Weg. Kurz: das Aufkommen der Montags-Dienstags-Mittwochs-Bars. Ein garantiert gefüllter Ort (remember: the temporal collective), an dem man sich gewiß verabreden kann. Bislang waren diese Orte aber nur diffus durch erwartbare Sounds untermalt. Selten konnte man jedoch dort sicher den Sound erwarten, den man wirklich hören wollte. Den Sound, der die unterschiedlichen Ausgehmotivationen hätte bündeln können.

Das schwache Glied waren hierbei die DJs, die das Ganze zumeist nicht überblicken konnten. Die zu sehr Spezialisten, denn Generalisten waren. Es gab natürlich immer auch die diffusen Generalisten, die von Abba bis Rex Gildo Stimmungsmusik spielten und die westdeutschen Provinzerfahrungen des Publikums bündeln konnten. Eine Zeit lang liefen Revivalparties und Retrophänomene dem eher auf Aktualität ausgerichteten Clubleben den Rang ab. Wenn man das etablierte Clubleben aufsuchte, verlebte man unter Garantie einen langweiligen Abend (inzwischen ist dies wieder eher andersrum). Diese fröhlich dilettierenden Party-DJs gerieten schnell zu einem weiteren Klischee, das eilig von den tagesverkrampften jungen Menschen vereinnahmt wurde. Kurzzeitig erschien das Phänomen der DJ -Everybody - Parties. Jeder der Platten mitbrachte, durfte 20 Minuten auflegen.Wieviele Tücken allerdings solch ein Konzept in sich barg, merkte man erst später. So richtig kool konnte das nie werden, daher wurde dieser Trend schnell wieder aufgegeben. Diese Phänomene konnte man als erstes Aufbegehren gegen eine erlahmte Atmosphäre der DJ-Culture werten, denn euphorische Stimmung war auf Schlager-, 70 er und 80 er Jahre-Parties meist garantiert.

Bei alldem blieb die Differenz Club-DJ - Party-DJ bestehen, die Kluft wurde sogar immer größer. Alle Club-DJs, die viel Mühen und Technik aufwendeten, um sich ihren internationalen Vorbildern anzunähern, versuchten daher, sich um so stärker von den Party-DJs abzugrenzen. Dies geschah jedoch meistens nicht aus Arroganz, sondern aufgrund der Eigendynamik einer Professionalisierung. DJs, die sich mehrmals die Woche auf die Suche nach ihren Sounds begeben, haben in Sachen Musik eine professionell verkürzte Aufmerksamkeitsspanne und geraten zusehends in den Sog der Neuerscheinungen, hinter denen jeder her ist. Diese Fokussierung auf das jeweils Neueste gleichen sie dann durch einige der verbrauchtesten Klassiker aus. Außerdem sind sie längst in eine Sonderkommunikationsform eingetreten. Die Mehrzahl der DJs redet fast ausschließlich nur mit DJs und Plattendealern und auch das meist nur unglaublich kurz und zweckorientiert. Die andere Fraktion redet dann hingegen viel zu viel.

Some problems with the DJ generation

Die verwirklichte Massen-DJ-Kultur zeigt sich an der Absurdität des allwöchentlichen rat race der DJs. Durch die Unzahl der Veröffentlichungen kommt ein Großteil der Platten nur in minimalen Stückzahlen auf den Markt. Sind diese vergriffen, kommt man nur noch sehr schwer oder gar nicht mehr an sie heran. Nachbestellungen werden zur mühsamen, nicht lohnenden Kleinarbeit und werden von der Mehrzahl der Plattenläden einfach nicht mehr geleistet. Will man nun das Ersterscheinen gar nicht erst verpassen, muß man mitunter zu bestimmten Uhrzeiten an festgelegten Tagen in den jeweiligen Läden sein und als erster die eben eingetroffene Lieferung abfangen. Ebenso kann man sich einen zu späten Gang zu Flohmärkten und Plattenbörsen gleich sparen. All das erforderte ein viel höheres Maß an Professionalisierung. Wer diese Klippe genommen hatte, tappte allerdings nicht selten in die Falle, eben nur die neuesten bzw. seltensten, aber nicht unbedingt auch guten Stücke zu spielen. Die Daseinsform eines DJs birgt aber noch weitere Tücken. DJs denken - oder sollte ich sagen fühlen - zu einem Großteil ihrer Zeit in nicht bzw. schwer kommunizierbaren Soundvorstellungen. Wie alle Idealisten hoffen sie auf Rezipienten mit gleichem Geschmack. Denen begegnet man als DJ nur leider fast nie. So kommt es nahezu zwangsläufig zu einer gewissen Abschottung oder gar Abneigung gegenüber seinen Zuhörern. Gegenüber ihren Wünschen, gegenüber ihren Fragen, gegenüber ihren Tanzstilen. Es waren eben nie die „Richtigen“. In einer Großstadt ist es leider auch nahezu unmöglich, einen festen Kreis aus Genießern um sich zu scharen. Selbst wenn man sich als DJ einen Namen erarbeitet hat, hat man längst nicht ausgesorgt. Der Unbesiegbarkeitsnimbus ist nämlich schnell dahin, wenn man beobachten kann, daß sich selbst die hochrangigsten Resident-DJs mit etablierten Markennamen während der Woche oder an den falschen Orten sich vor 50 Leuten durch den Abend quälen müssen. Das Publikum folgt also keinem DJ-Namen allein (so konnte man dann auch konsequenterweise vor kurzem als Partyankündigung lesen: „Auflegen tut ein DJ“)

Auch die Vertiefung in die Mixtechnik reduzierte die Kommunikation ganz erheblich. Ganz banal gesehen konnte man mixende DJs kaum mehr ansprechen und es führte häufig dazu, daß man viele DJs nur noch dabei beobachten konnte, wie sie arbeiteten, ohne den Kopf zu heben. Infolgedessen beachtete auch das Publikum den DJ gar nicht mehr richtig. Als wären DJ und Publikum gar nicht mehr für einander zuständig. Es lief also zusehends schief in der Kommunikation zwischen DJ und Publikum. Traditionelle Feedbackschleifen wurden entkoppelt und so manche DJs wählten ein Selbstverständnis als mitunter autistischer Record-Artist. Das nächtliche Auflegen wurde als Training gesehen und diese Fähigkeiten und dies Wissen schließlich für eigene Produktionen genutzt. Auch hier geschah nicht gerade selten eine Codeverwechslung. Mal betrachteten sie sich als Teil des Kunstsystems und erzwangen ein gewisses Bestaunen ihrer experimentellen, akustischen (ähem) Skulpturen. Mal erinnerte ihre Akrobatik an das Sportsystem. Man wagte dann gar nicht mehr einzuwenden, daß man eigentlich zum Tanzen, zur Party hergekommen war.

Die DJs hatten sich aus der direkten sprachlichen (und leider häufig auch aus der musikalischen) Kommunikation verabschiedet, machten aber ab und zu komische neue interessante Sachen. Das hatte schließlich zur euphorisch bejubelten DJ-Kultur geführt, wie wir sie kannten. Doch erweist sich dieser Weg als recht einseitig. Denn wie leicht inzwischen mit moderner Technik halb-okaye Stücke zu produzieren sind, kann jeder nach einem Test der neuen Softwareprogramme wie bspw. Music Maker ermessen. Wie sehr diese kreativen Möglichkeiten aber aus dem Ruder gelaufen sind, merkt man spätestens dann, wenn man sich stundenlang durch die neuesten heiß empfohlenen Platten hört und kaum auf eine relevante neue Idee und erst recht auf kein wirklich befriedigendes Stück stößt. Okay, wir leben in den Neunzigern und man sollte sich längst darauf eingestellt haben, daß man es da draußen mit einer irrsinnig großen Menge Trash zu tun bekommt. Doch die Mengenverhältnisse zwischen hervorragenden und mittelmäßigen Stücken hatten sich auf eine Weise zur Mittelmäßigkeit hin verschoben, die alle Beteiligten abstumpfen ließ. Gelangweilte DJs spielten langweilige Tracks vor gelangweiltem Publikum. Die nahezu ereignisarmen Sets führten entweder zu indifferentem oder eher feindseligem Verhalten des Publikums. Begeisterte Kommentare über DJs sind schließlich selten geworden. Sie mußten fast zwangsläufig ihre angestammte Funktion aus den Augen  verlieren: durch ihr Set die starren Tagesstrukturen aufzulösen und  Neuverknüpfungen im Rausch der Musik - sexueller oder alltagseuphorischer Natur - zu ermöglichen.

Mixing

Das Mixen, der Inbegriff des modernen DJings wurde in allen Zeitschriften und Büchern als neugefundene Freiheit umjubelt. Ich denke, jeder kennt die Argumente dafür. Gibt es auch welche dagegen? Muß es nach einigen Jahren durchgesetzter Massen-DJ-Kultur inzwischen einer Überprüfung unterzogen werden? Es scheint inzwischen ein Umschwung eingesetzt zu haben. Es mehren sich die Stimmen, die sich über zu deutliche Eingriffe des DJs in die Stücke beschweren. Deutlich veränderte Geschwindigkeiten verärgern diejenigen, die die Stücke mögen, dasselbe gilt bei zu spätem Einblenden oder zu frühen Ausblenden, Einlagen wie Scratching werden längst nicht mehr von jedem akzeptiert. Das dominante Hochdrehen der Bässe ist nicht mehr unumstritten. Am deutlichsten wird aber kritisiert, wenn durch Beat-in-Beat-Mixen ein stundenlanger einheitlicher Brei erzeugt wird. Mit den Freiheiten ist es also nicht mehr so weit her. Gerade die Erzeugung von Kontinuität durch möglichst unhörbare Übergänge würde ich als primäre Falle des Mixens bezeichnen. Unter Ecstasy eventuell magisch, schläfert es unter anderen Umständen mitunter ein. Denn der Verlust von Taktunterschieden, das Verschleiern von Differenzen ist häufig nur eine schlecht gemachte Reizdeprivation und das ergibt nunmal eher eine stumpfe Berauschtheit.

Häufig neigten DJs dann dazu, die Platten nach dem Beat auszuwählen und nicht nach Aspekten des Spannungsverlaufs. Fülltitel galore wurden eingebaut, manches Set schien fast nur aus Fülltiteln zu bestehen. Technik nahm ganz klar Vorrang vor der Qualität der Stücke ein und die Orientierung an den wenigen DJs, die legendäre technische Fertigkeiten aufweisen, hat zu einer einseitigen Zielrichtung geführt. Jene wirklich großartigen DJs hatten aber neben den technischen Fertigkeiten auch eine besondere Perspektive, einen besonderen Geschmack. Auf letzteres wurde stets geringer geachtet, weil es von jeher einfacher ist, technische Fertigkeiten zu kommentieren als inhaltliche Qualitäten. Mich selbst macht Kontinuität nervös, weil sie nicht stimmen kann. Es läuft grundsätzlich etwas verkehrt, wenn man den ganzen Abend nur ein einziges Stück hört. Die Verschleierung der grundlegenden Diskontinuität des Lebens darf zumindest in kein Verwaschen von Besonderheiten führen. Natürlich werden DJs weiter mixen, aber einige fangen an, es nicht mehr so gleichförmig zu tun. Ich muß allerdings zugeben, daß mich die Erfindung des Mixens nie dauerhaft überzeugen konnte, weil es das Machtgefälle und die Tendenz zu unmündigem Verhalten des Publikums deutlich verstärkte. Es machte wenig Spaß und bedurfte einer hohen Frustrationstoleranz, wie ein Schaf manch überflüssigen Einfällen des DJs folgen zu müssen. Nachdem das Mixen zum Allgemeingut geworden ist, birgt es kaum mehr Informationswert. Dies bietet alles in allem inzwischen nicht gerade den höchsten Anreiz, es noch zu lernen.

Deutlich wurde dies besonders am Phänomen des jugendlichen DJ-Genies. Die sich inzwischen immer stärker separierenden Altersstufen werden durch technische Fertigkeiten allein nicht gewinnbringend überbrückt, weil Geschmack im wesentlichen co-ontogenetisch, d.h. durch gemeinsam verbrachte Lebenszeit geprägt ist. Man hatte den DJs lange Zeit ungestört die Verantwortung für den Abend überlassen, da sich der Respekt vor den Mixkünsten und dem Mehrwissen in Sachen Musik in einer Art asymmetrischer Arzt-Patienten-Beziehung ausdrückte. Doch Ärzte, die Kunstfehler begehen, werden immer häufiger verklagt. Ebenso sind Ansätze spürbar, daß sich das Publikum aktiver in die Gestaltung des Abends einmischt. Die Ungeduld wird größer und die Schonzeit für DJs scheint vorüber.

Natürlich schlägt im Zweifelsfalle jeder DJ mit gutem Geschmack, der mixen kann, einen DJ, der nicht mixen kann. Viele mixende DJs vergaßen aber, daß sich zwischen den Übergängen die wirklich wichtigen Dinge abspielen, nämlich die Stücke selbst. Das soll nun nicht als Wiedereinführung einer Inhalt-contra-Form-Debatte verstanden werden, denn die Freiheit von den Inhalten, die als quasi ewiger Wert verstanden wurden (und entsprechend lähmend waren), ist ein gewaltiger Vorzug der jetzt gültigen Medium-Form-Unterscheidung. Akteure tun permanent nichts anderes, als gewisse Formen innerhalb eines Mediums zu erzeugen, seien es Töne, Sprache, Pixel oder sonstige Materialien. Nur sind eben einige Formen klüger gewählt als andere, denn diese stimulieren nunmal umfassender als andere.

Das Problem der dauerhaften Aufmerksamkeitserregung

Die neue Währung ist Aufmerksamkeit, sie ist die Ressource des Informationszeitalters. Dies gilt am stärksten im System der Massenmedien und ist oberstes Prinzip der Werbung. Wer im Informationszeitalter keine Aufmerksamkeit erzeugen kann, existiert einfach nicht. Selbst die Windsors hatten Mitte der Achtziger Jahre begriffen, daß ihr relativ funktionsloses Dasein nur weiterlaufen konnte, wenn sie durch ihre Annäherung an die Presse die öffentliche Aufmerksamkeit errangen. Weil aber die ganzen neu geschaffenen Medien um diese Aufmerksamkeit konkurrieren, werden die Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer. Wir müssen nun erkennen, daß die moderne Medienwelt unser Gehirn auf sehr professionelle Weise benutzt. Aufmerksamkeitsmechanismen werden abgekoppelt von Bewußtseinsvorgängen höherer Ordnung (Reflexionen) und ständig kurzgeschlossen. Wie man aus der Medienwirkungsforschung weiß, tritt dies schon bei Schnittintervallen unter drei Sekunden auf. Außerdem richten wir in der Regel unseren Blick oder unser Gehör auf etwas Besonderes aus, bevor uns das bewußt ist. Diesen Vorsprung verschenkten die Werbeprofis natürlich nicht. Die Entwicklung zum Sensationalismus nahm ihren Lauf.

Hier tritt nun eine gewisse Komplikation auf. Nachtleben in den Clubs dauert im Normalfall viele Stunden. Nun ist es auch klar, daß Besucher eines Nachtclubs nach sehr kurzer Zeit unzufrieden sind, wenn ihre antrainierten Aufmerksamkeitsprinzipien unterlaufen werden und einfach zu wenig geschieht. Clubs müssen durch diese Entwicklung also stärker auf die veränderten Aufmerksamkeitsmechanismen ihres Publikums achten, denn schließlich wollen sie das fast Unmögliche: die Aufmerksamkeit über eine ganze Nacht ausdehnen. Dies wurde zur Hoch-Zeit der Raves über multimediales Bombardement versucht. Parties wurden professioneller organisiert und ausgestattet als je zuvor. Das alles trieb die Anspruchshaltungen des Publikums in ungeahnde Höhen. So wurde dann vorwiegend auf jene Neuheiten und nicht mehr auf das Publikum geachtet. Gerade diesen sensationalistischen, kalten und unschlauen Anspruchshaltungen mußten Clubbesitzer, Clubpersonal und DJs in der Folgezeit begegnen. Das Schlimmste an diesem Zustand der Übersättigung ist jedoch, wenn die Übersättigten nicht damit umgehen und diesen Zustand nicht für sich verwenden können. Wenn sie also den Übergang von Beobachtungen 1. zu Beobachtungen 2. Ordnung nicht schaffen (sprich: Reflektionen darüber nicht anstellen, wie man beobachtet, was man erwartet). Es ist natürlich kein Zufall, daß gerade im Nachtleben die Angleichung von Erwartungen an reale Umstände so schwierig zu sein scheint, denn Rauschhaftigkeit und Realismus scheinen sich im ersten Moment nur sehr schwer zu vertragen. Es führt aber nur ein Weg an der Einsicht vorbei, daß man für sein Vergnügen mitverantwortlich ist: Immer nur genau dorthin zu gehen, wo Ereignisse so inszeniert werden, als lebten wir noch in der Techno / House-Revolution. Keine Ahnung, wo das ist. Das System der Clubkultur ist immer noch reichlich wenig emanzipiert, als würde die alte Auffassung einer Übergangsphase zum Erwachsenwerden noch gelten. Das gerade tut sie aber nicht mehr. Ein eigenes Selbstbewußtsein für ein nicht jugendliches Clubleben existiert bislang noch nicht. There is no second peak. In den Köpfen der Leute leiten sich alle Rauschmotivationen immer noch von kaum relativierten, nicht mehr erreichbaren Jugendphantasien ab. Partyankündigungen und Flyer sind weiterhin an einem Kenntnisstand orientiert, den eigentlich jeder spätestens mit 23 hinter sich gelassen hat. Neuer! Aufregender! Sexyer! funktioniert doch schon lange nicht mehr. Und das nahezu völlige Fehlen von Ironie ist im Zeitalter von Harald Schmidt, Daisy Dee und Verona Feldbusch doch ziemlich unverständlich.

Anything gone

Das Leitwort des Postmodernismus war zweifellos Feyerabends Zitat „Anything goes“. Man unterschlug allerdings regelmäßig den wichtigeren zweiten Teil „if it works“. Inzwischen mußte man einsehen, daß eben nicht alles funktionierte, was im überschwenglichen Gestus des Pluralismus formuliert wurde. Daher beschreibe ich die Tribalisierung und zunehmende Ausdifferenzierung der Genres in Subgenres nicht mehr als eine wirklich überzeugende generelle Perspektive. Wann immer der Zug der falschen Freunde von einer eben noch gefeierten Stilrichtung weiterzog, blieben im Regelfall nur noch ein paar etablierte DJs und Acts übrig, die nach der Hoch-Zeit allerdings nur noch als Spezialevent, nicht aber als regelmäßige Einrichtung funktionierten. Denn obwohl es noch unzählige stille Fans dieser Genres gibt, lassen die sich doch nur zu bestimmten Ereignissen bündeln. So konzentriert sich in postspezialistischen Kommunikationssystemen wie dem Clubleben doch wieder fast alles auf die zentrale Tanzbarkeit eines undogmatischeren House-Beats (von der noch außerordentlich spezialisierten Drum`n`Bass Fraktion mal abgesehen). Die einzelnen Genres wurden dann recht undramatisch von vielen DJs als kleine Versatzstücke in ihr Set eingewoben. Diese Stilfragen können aber eigentlich keine große Rolle mehr spielen, da sie inzwischen nur noch Scheindiskurse darstellen. Die grundlegende Dysfunktionalität im Clubleben kann mit Diskussionen über Stilfragen nicht mehr geklärt werden. Natürlich existieren außerhalb des Clublebens je nach sozialem Umfeld nach wie verschiedene Musikrichtungen. Jede dieser Sparten hat dann eine Entwicklung zu einem eigenen Mainstream durchlaufen. Im Clubleben etablierte sich schließlich House-Musik als Mainstream. Nachdem also die Ausdifferenzierung in verschiedene Styles keinen mehr vom Hocker reißt, kann man beobachten, wie sich gänzlich unspektakulär wieder an einer gewissen Norm des Funktionierens orientiert wird. Dieser Funktionalismus verwendet zwar noch vorwiegend die Leitsprüche der Postmoderne (z.B. Freiheit von der Norm), ist im Kern aber doch vielleicht eher modernistisch ausgerichtet. Daher könnte man von einem Wiedereinstieg in eine nun aber ironischere Moderne sprechen (falls man sich überhaupt noch mit der eher unfruchtbaren Unterscheidung Moderne / Postmoderne abgeben will). Denn obwohl man an einen einheitlichen Fortschritt nicht mehr glauben kann, spricht und verhält man sich inzwischen wieder besser dezent so, als ob es ihn gäbe. Es gab eine Zeit, da lachten wir über jeden Fortschrittsglauben. Denn Entwicklungen in der Postmoderne verliefen in die Breite, in die Diversifikation. Postmoderne und ihr spezifischer Style der Generation X (und deren Leben in verschiedensten Mikro-Mythen) vermittelten uns die Gewißheit, in der Endzeit (relaxed version) zu leben. Endzeit stimmt zwar immer noch, aber inzwischen nennen wir es besser Gegenwart. Inzwischen mutierte der einstmals hohe Wert der Diversifikation zur oberflächlichen Verkaufsbotschaft und dahinter schimmerte unübersehbar der Markt durch, dessen Prinzipien außer Fußballfans, Beamten, Stahlarbeitern und Autonomen jeder gut zu kennen scheint. Denn diese hatten besonders deutlich den Übergang von der Leistungsgesellschaft (und evtl. deren Bekämpfung) in die Erfolgsgesellschaft verschlafen. Aber auch die Erfolgsgesellschaft benötigt den Rausch, vielleicht jedoch in anderen Formen.

You can go your own way

Seit den achtziger Jahren wurde ein Trend immer deutlicher. Das damals eher jugendfeindliche und starre Wirtschaftssystem integrierte zusehends jugendliche Ideen. Schließlich wurden die jugendlichen Ideale als bevorzugte Werbebotschaften eingesetzt. Es wurde nicht mehr hauptsächlich mit Hausfrauen, sondern mit jungen schönen Menschen geworben. Den Jugendlichen standen nun verstärkt Möglichkeiten zu eigenen Unternehmungen offen. Inzwischen sind die gesellschaftlichen Abläufe so hochdynamisch geworden, daß es schon ein flexibles, schnell lernfähiges junges Gehirn benötigt, um bei den rasanten Entwicklungsschritten mithalten zu können. Junge Menschen werden jetzt besonders gebraucht, folglich haben sie tendenziell mehr zu tun als früher und können nicht mehr allzu viel Zeit mit ungesunden oder unproduktiven Tätigkeiten verschwenden. Außerdem werden die Zeitanforderungen an Projekte und Unternehmungen so hoch, daß immer mehr Zeit für Tagesgeschäfte aufgewendet werden muß. Viele zogen sich aber auch aus dem Nachtleben zurück, weil sie an ihren Erwartungshaltungen gescheitert waren. Die Zahl derer, die für ein andauerndes Nachtleben in Frage kommen, wurde so zusehends reduziert. Und diese hatten auch immer weniger Geld zur Verfügung. So ging man wieder vor allem an den Wochenenden weg, während der Woche kam das Nachtleben weitgehend zum Erliegen.

III. Wie kann man dieses Dilemma nun auflösen?
 
1. Abkehr von der streng monotonen, baßlastigen Track-Kultur

Der Aufstieg des Massenphänomens Tanzmusik und der Clubkultur ging fast notwendigerweise mit dem Aufstieg der Bass-Kultur einher. War die Tanzmusik der Siebziger deutlich songorientiert und symphonisch (und mit hohen Stimmen versehen siehe Bee Gees) so bahnte der Spruch „Turn up the bass“ in den Achtzigern den Weg für einen dominanten Bass. Techno reduzierte sich häufig auf ein monoton stampfendes Bum-Bum. Jungle / Drum & Bass differenzierte dann die Bass-Spielarten noch aus, blieb aber ähnlich reduktionistisch. Dieser monotone Geräuschraum war der Inbegriff der inzwischen abflauenden Massentanzkultur der Raves. Auch in der älteres Publikum ansprechenden Clubkultur setzte sich mit Ausnahme von Phänomenen wie Acid Jazz und TripHop die Track-Kultur durch (bei letzteren nur bedingt), wenn auch mit deutlich reduziertem Bass-Einsatz. Die Strömung der monotonen spartanischen „Mangel“-Tracks flaut spürbar ab. Die dort gültigen Prinzipien des strengen Reduktionismus vermögen die verschiedenartigen Bedürfnisse der Menschen nicht mehr einzubinden. Das Monotone ist nur interessant, wenn es eine gewisse Erstmaligkeit besitzt oder wenn gewisse Drogen dies erfordern. Nach dem Abklingen der Ecstasy-Kultur wird dieser Mangel nicht mehr bejubelt, sondern als tatsachliches Defizit erkannt, als Mangel an Präsenz. Denn schlechtgemachte Reiz- oder genauer Erfahrungsdeprivation (das wurde es immer mehr) verhindert das Erleben der umfassenden Gegenwart. Offensichtlich haben inzwischen sehr viele keine Lust mehr auf Musik, die ohne Drogen langweilig sein muß. Wo bleibt denn da auch die Lebensqualität? Daher werden in letzter Zeit Stücke bevorzugt, die Monotonie durch kleine spannungssteigernde Elemente ablösen. Filterhouse ist dafür ein gutes Beispiel. Da diese `stupid filter tricks´ etwas Ereignishaftes simulieren, haben sie genau die oben angesprochene gegenwartsbefördernde Wirkung. Das sich langsam anschleichende Aufdrehen der Filter erzeugt eine Differenz zur Homogenität  Ebenso ist eine verstärkte Annäherung an Melodien und eine Verwendung von warmen Disco Cut-Up Schnipseln zu bemerken. Und jeder muß feststellen, daß vor allem songorientierte Kompositionen momentan den meisten Zuspruch finden. House läßt sich jetzt also auch als Song und nicht nur als Track begreifen. Klänge, die den Raum auskleiden, statt ihn stumpf zu verengen. Was der Techno-Bewegung lange Zeit als verachtenswerte Tradition erschien und unbedingt überwunden werden sollte, schleicht sich langsam in neuer Form wieder ein. Das ausschließlich als eine eskapistische Rückwendung zu bewährten Traditionen zu sehen, macht nicht viel Sinn. Denn die verhältnismäßige Naivität vergangener Zeiten erreichen zu wollen, ist kein realisierbares Ziel. Vielmehr ließe es sich als nichtelitärer abstrakter Situationismus beschreiben, der nun aber auf reichhaltigere, angenehmere Situationen abzielt.

2. Situative statt außersituative Feedbackschleifen

Um Gegenwart erleben zu können, benötigt es gelungene lokale Feedbackschleifen. Die Kommunikation sollte in den Situationen besser vernetzt werden. Sich durch Verweise auf situationsexternes Wissen („da hab ich schon bessere DJs erlebt“ oder „Mann, ist das wieder ein fades Publikum“) herauszumogeln, nützt wenig. Kurz gesagt, situativ ungeschickte Erwartungshaltungen führten zu dieser Erstarrung im Nachtleben. Denn wenn die Situation nicht zur eigenen Erwartungshaltung paßt, dann gibt fast jeder erst einmal der Situation schuld. Diese Selbstgerechtigkeit klingt noch in viel zu vielen Kommunikationen an. Natürlich geht es nicht ohne Stimulation, daher muß auch die Einfallslosigkeit der meisten Clubbetreiber zu Ende gehen. Ohne „food for thought“ durch  zeitgemäße Musik- und Raumkonzepte kann man nur sehr schwer Anregungen für Kommunikation liefern. Überall da, wo Gedanken mangels Stimulation und Freiraum nicht zu Kommunikation führen können, verkommen sie zu geheimen, unzufriedenen Gedanken, die das jeweilige Kommunikationssystem bald ganz beenden könnten. Die mangelnde Beachtung der grundsätzlichsten Funktion des Bewußtseins, Transformation von Wahrnehmung in Kommunikation, zahlt sich langfristig also nicht aus. Nun ist es aber andererseits so, daß der Kreis der Vielausgeher kleiner und damit auch familiärer als früher wurde. Und das kann der situativen Vernetzung wieder nur gut tun.

3. Abkehr von der homogenen Verführungsklasse

Jahrzehntelang konnten sich die Menschen im Glauben an den umsorgenden Sozialstaat auf eine ausreichende Fremdbestimmung verlassen. Man mußte nur seinen Job machen, dann wurde man mit Rente belohnt. Die Sicherheit einer homogenen Versorgungsklasse beginnt sich jedoch zusehends zu verflüchtigten. Ebenso mußte man sich im Nachtleben nur einen interessanten neuen Club aussuchen und wurde dort dann ausreichend verführt. Inzwischen ist man aber vorrangig auf die eigene Vergnügungskompetenz angewiesen. Und das klappt meist dann am besten, wenn man die richtigen Orte wählt, von spießigen Erwartungshaltungen, Ungeduld und Mißtrauen Abstand nimmt und sich entspannt auf den Abend einläßt. So gilt auch in den Clubs, was sich zusehends als fundamentalster Wert durchsetzt: Interesse. Finde heraus was dein eigenstes Interesse ist und verfolge dies dann. Der Rest ist Zeitverschwendung. Denn es sieht so aus, als bliebe dies auch nach dem Tod die wichtigste Antriebskraft. Wenn man sich also ins Nachtleben begibt, bedeutet dieses Interesse logischerweise (wenn man den Code rauschhaft / nicht rauschhaft akzeptiert), die für einen selbst angenehmste Form der rauschhaften Kommunikation zu finden. Es könnte sonst sein, daß man seinem Interesse ungeschickterweise am falschen Ort nachgeht.

4. Ausrichtung an der reinen Gegenwart

Gegenwart ist nicht mehr das, was wir uns früher darunter vorstellten, sie ist nicht mehr  im herkömmlichen Sinn als progressiv oder modernistisch beschreibbar. Auf jeden Fall ist sie inzwischen nachgeschichtlich zu nennen, denn Geschichte war immer eine Geschichte des „Wir“. Mit dem Niedergang der großen Kollektive wurde auch die lineare biographische Geschichte gleich mitentsorgt. Das kann man daran erkennen, daß man immer weniger Interesse an den Lebensläufen der anderen hat. Nur noch das, was in die gegenwärtige Situation paßt, kann verwendet werden. Gegenwart ist nicht mehr das nur jeweils Neueste. Gegenwart heute integriert mehr oder minder gleichwertig alle co-ontogenetischen Vergangenheiten der Beteiligten. Alle während der zusammen verbrachten Lebenszeit gemachten Erfahrungen sollten sich durch einen den Assoziationsregeln folgenden roten Faden bündeln lassen. Gerade die Diskrepanz zwischen dem ausdifferenziertem System der Clubkultur (mit zunehmender Mißachtung der Interaktionen) und der tatsächlich in den Situationen stattfindenden Interaktionen können  schlaue Zitatmeister in den größtmöglichsten Gewinn verwandeln, indem sie die in den Köpfen verborgenen Wegmarken der Ausdifferenzierung stimulieren. Denn die bisherige Methode, dies über Neuheiten zu versuchen, schafft das immer seltener. Denn wirkliche Neuheiten sind seltene, vom Aussterben bedrohte Tiere. Ganz entscheidend dabei ist aber das Set des DJs als zeitübergreifende und Stilgrenzen überwindende Perspektive. Er hat die Möglichkeit, durch das Aufgreifen alter Stücke den Kommunikationsraum zwischen den Menschen zu weiten und durch die dann entdeckten Gemeinsamkeiten eine möglichst grenzenlose reichhaltige Gegenwart zu erzeugen. Eine Gegenwart, die wie selbstverständlich über die Kraft einer Vielzahl gespeicherter Erinnerungen verfügt. Erinnerungsraumsurfen mit gleichberechtigter Geltung der „aktuellen“ Gegenwart. Was dann im Regelfall entsteht, ist Freiheit.

Eine besondere Rolle kommt dabei auch der visuellen Raumaufbereitung zu. Einrichtungen und Dias, sollten das Kriterium eines modernen Mythos erfüllen. Mythen sind kollektive Erzählungen, die meist um eine zentrale Idee kreisen. Das Weltall, Sonnenuntergänge und andere Panoramen, Kontaktanzeigen, Las Vegas, Brasilia, Wissenschaft, Aktienmärkte, Zeit, Guildo Horn oder (als Selbstthematisierung) das Clubleben sind Beispiele für solche Mythen. Jede Nacht ein anderer Mythos. Eine Mythos hat wenig mit sensationeller Neuheit zu tun, sondern stellt im Gegenteil das allen Bekannte dar.Wer sich etwas in der Medienwelt umsieht, wird bemerken, daß weitreichend von avantgardistischen Neuheiten auf Neuaufbereitungen von Mythen umgestellt wurde (Aufschwung der Katastrophenfilme, Beetle usw.) Das hat den Vorteil, daß bereits etwas in den Köpfen der Menschen steckt, das nur kraftvoll wiedererweckt werden muß. Das ist weniger aufwendig als eine neue Kategorie einzuführen. Die zeitgemäße Verwendung eines Mythos verknüpft Ideenfragmente aus den unterschiedlichsten Einzelbereichen zu einem stimmigen Gesamtkonzept, denn inzwischen überzeugen nur noch diese (gib den Menschen ein einziges sichtbares Manko und sie werden sich bevorzugt darauf stürzen). Mit dem Wechsel von Sensation zu Mythos und wenn man so will: vom attackierenden Marktgeschrei der Designideen zum angenehmen Wohlgefühl, geht auch eine stärkere Betonung der Überzeugung gegenüber der Manipulation einher. Da Information erst im Kopf des "Empfängers" entsteht, werden dessen Erwartungsstrukturen, dessen Interessen immer wichtiger. Man könnte es Kunden- oder Benutzerfreundlichkeit nennen. Die Clubkonzepte mußten dies früher nicht so sehr beachten, ein neuer Laden war ohnedies sofort gefüllt. Doch das scheint noch selten zu klappen. Auch als DJ kämpft man ohne Unterstützung eines stimmigen Clubkonzepts mitunter vergebens.

Bei alldem wird klar, daß wir einen neuen Zeitbegriff benötigen. Zeit ist nur eine gehirninterne Konstruktion eines jeden einzelnen Beobachters, ein Bluff, auf den wir permanent hereinfallen, denn das, was wir Gedächtnis nennen, ist ein Vergleich zwischen aktuellen parallelen Verarbeitungsmechanismen. Zeit ist also eine nachträglich eingeführte Operation des Organismus, um Ereignisse verknüpfen zu können. Streng genommen besteht sie nur aus einem diskontinuierlichen Strom aus Ereignissen. Die Welt zeigt sich also nur in mehr oder minder wahrscheinlichen punktuellen Einzelereignissen. Weil Organismen aber gewisse Taktungen brauchen, errichteten sie allerdings je nach Erfordernissen unterschiedliche Eigenzeitkreise. Jedes einzelne Lebensinteresse hat seine günstigste Zeitkonstruktion. Die gelungenste Zeitkonstruktion im Club ist idealerweise die Auflösung von Zeitkonstruktionen, also Zeitlosigkeit. DJs haben eine Position inne, in der sie den Zuhörern ihre im Normalfall engen Zeitkonstruktionen vor Augen führen können, daher sollten also beispielsweise ihre geradezu sprichwörtliche Feigheit vor bekannten, alten Stücken verlieren. Das Publikum wehrt sich anfangs aber mitunter sehr heftig mit abschätzigen Kommentaren gegen diese Erweiterung (so kann man im Regelfall erst später mit älteren Stücken beginnen). Das sollte DJs aber nicht beirren, denn eine für alle gewinnbringende Perspektive wird in der Regel nach einer gewissen Zeit erkannt.

Es sollte die Grundüberlegung jedes Menschen und auch DJs sein: reduziere ich mit meinen Handlungen die Möglichkeiten der anderen (will ich sie nur dazu bringen, daß sie das denken, was ich denke) oder erweitere ich ihre Freiheiten. Ich kenne bislang allerdings nur wenige DJs, die Freiheiten fördern wollen. Brilliante DJs vermögen es nämlich, die Menschen dazu zu verführen, sie selbst zu sein. Und das geht nicht allein mit Erstmaligkeit, sondern bedarf auch der Bestätigung der Strukturen des Hörers.

Schluß

Auf diese Krisenzeit reagieren die meisten noch mit Unlust, Schuldverschiebungen oder Ratlosigkeit. Denn wenn ein ganzes System nicht mehr funktioniert, ist selbstverständlich der einzelne überfordert. Die angesprochenen   Nachtleben-Systeme (andere funktionieren noch ganz gut z. B. Kino, Restaurants) sind nur einige Beispiele von vielen, die durch das aufdrehende Wirtschaftssystem und das System der Massenmedien an die Wand gedrängt wurden. Nachdem das Clubleben anfangs (besonders in Berlin) sehr stark von den Massenmedien profitierte (die ganze Welt war auf die Clubszene nach der Maueröffnung neugierig geworden), wendete sich mit sinkendem Informationswert langsam das Blatt. So stecken wir momentan in einer Gesundschrumpfungskrise, wo diejenigen, die immer noch häufig weggehen, immer genauer wissen, warum sie das tun und was sie wollen. Die Gespräche werden jedenfalls immer eigentlicher, immer besser. Es mehren sich die Indizien, daß sich die oben angesprochenen Übergänge langsam vollziehen. Es gibt doch einige DJs, die die gegenwärtigen Strömungen richtig zu deuten wissen und wieder deutlich gelungenere Sets spielen, es gibt einige Clubs, die immer angenehmere Räumlichkeiten bieten für Abende reiner Gegenwart. So kann es nur heißen: willkommen zurück in der Gegenwart. Das ist alles, was im Nachtleben noch übriggeblieben ist. Gegenwart war schon immer die besondere Stärke des Nachtlebens, vor allem zur Blütezeit der Techno-Bewegung. Durch das Festhalten an unzeitgemäßen Mustern für einen Moment verdrängt, setzt sie sich auf andere Weise langsam wieder durch. Alte Konzepte reichen nur selten zur Erzeugung von Gegenwart aus. Wenn die Clubkultur aber als eigenständiges System auch wieder expandieren soll, dann sollte sie sich nicht nur auf ihre alten Stärken besinnen, sondern auch ihre eigenen Ausdifferenzierungen selbstreferentiell auf kluge Weise in ihr System miteinzubauen.  fin 2001

 

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