Nachtleben
(von DJ Sans Soleil)
I. Einleitung
und Theorie
Was ist los
mit dem Nachtleben? Die Krisenphänomene (leere Straßen, leere
Clubs) sind unübersehbar und keineswegs lokal beschränkt. Was
jahrzehntelang funktionierte, klappt offensichtlich nicht mehr. Es
scheint, als würden die Menschen die Erfindung des nächtlichen
Kollektivs langsam einsparen. Da die Dinge nicht mehr automatisch
funktionieren, sollte man vielleicht einmal darüber nachdenken,
worum es im Nachtleben eigentlich geht. Die unreflektiert
euphorischen Selbstbeschreibungen der Clubszene in Flyern und
Magazinen scheinen jedenfalls schon seit längerem ins Leere zu
laufen (und sie machen vor allem keinen Spaß mehr). Seit einiger
Zeit steht nun mit der neueren Systemtheorie ein kooles
theoretisches Handwerkszeug zur Verfügung, das in solchen Fällen
doch beträchtlichen analytischen Gewinn ermöglicht. Dazu führe ich
einige grundlegende theoretische Vorbedingungen ein, um den
veränderten Blickwinkel auf die später hauptsächlich behandelte
Clubkultur zu verdeutlichen. Verschiedene Aspekte z.B. DJ-Culture
beschreibe dabei mit wesentlich geringerer Distanz, da ich mich doch
ein gewisser Ärger antrieb, der damit nun genügend abgehandelt sein
dürfte. Bei der Systemtheorie will ich jedoch nicht stehen bleiben.
Sie ist vielmehr ein zeitgemäßes Level, das es ermöglicht, alles zu
beschreiben, was Gegenwart ausmacht. Von dort ausgehend sollte man
aber dann die Frage in den Blick nehmen, wie man denn in der
Gegenwart ein gutes Leben führen könnte.
Alle
etablierten Formate für Gegenwartswissen, seien es wissenschaftliche
Papers, seien es Artikel in Zeitgeistmagazinen, seien es
Zeitschriftenartikel sind in ihrer jeweiligen spezialisierten Form
beschränkt und damit einseitig. Diese engen zielgruppenspezifischen
Ansätze reichen für sich gesehen schon lange nicht mehr aus,
Gegenwart zu beschreiben. Ist das Format perfekt einzuordnen, tritt
ein äußerst unangenehmes Phänomen auf: Langeweile. Man achtet
stärker auf die Anpassungen an dieses Format und seine Defizite, als
auf die mitgeteilten Informationen. Dieses Spezialistentum genügt
immer größeren Kreisen nicht mehr.Doch sind Formate, die eine solche
Entwicklung berücksichtigen, noch kaum in Sicht (Ausnahme vielleicht
im Internet z.B. telepolis). Ein bemerkenswertes Beispiel für den
erfolgreichen generalistischen Ausbruch aus ausgetretenen Formaten
ist die Harald-Schmidt-Show. Dort wird man (insbesondere bei den
Filmberichten) fast täglich mit wechselnden Formaten konfrontiert.
Besonders wegweisend sind die Ideen, das eigene Medium auf
überraschende Weise gewinnbringend selbst zu thematisieren. Diese
Entwicklung zu immer höherer Selbstreferenz ist ein wichtiger
gesellschaftlicher Entwicklungsstrang. Statt einfach nur Realität
abbilden zu wollen, spielt das Medium selbstironisch mit seinen
zahlreichen etablierten Formaten zur „Realitätsabbildung“. Dieser
steigende Selbstbezug geschieht im Umfeld einer zunehmenden
Vernetzung zwischen den Einzelkategorien. Gebündelt wird dies durch
eine Perspektive eines Autors oder einer Redaktion wie beim
Ironiesystem des Harald Schmidt. Nennen wir es einen gut gemachten
neuen Generalismus. Es ist die jeweilige Perspektive, die die
punktuellen Ereignisse der Welt zu einer wirksamen Wirklichkeit
macht. Dieser Text versucht, diesen Weg einzuschlagen, nur soll
nicht vorrangig Entertainment, sondern pragmatisches
Gegenwartswissen anvisiert werden.
Soziale
Systeme
Die
Ausgangsüberlegung ist folgende: es gibt im Nachtleben verschiedene
soziale Systeme, wie es im Tagesleben unterschiedliche soziale
Systeme gibt, z.B. ein Wirtschaftssystem, Wissenschaftssystem,
Rechtssystem, Massenmedien, usw. Erkennbar ist das jeweilige
Teilsystem an seiner Leitdifferenz, einem primären Code, um den sich
alle weiteren Unterscheidungen herum gruppieren. Der lautet haben /
nicht haben in der Wirtschaft, wahr / falsch in der Wissenschaft,
legal / illegal im Rechtssystem, Information / Nichtinformation im
System der Massenmedien, gewinnen / verlieren im Sportsystem usw.
Nun sind diese vorwiegend tagsüber stattfindenden Teilsysteme der
Gesellschaft natürlich wesentlich ausdifferenzierter als das
Nachtleben mit seinen stark heterogenen Ausprägungen. Jedes dieser
Teilsysteme hat eine bestimmte Funktion. So stellt das
Wirtschaftssystem eine Verrechnungsmöglichkeit verschiedener
Leistungen und Produkte zur Verfügung, stellen die Massenmedien die
Informationen für die Gesellschaft bereit, soll uns das Rechtssystem
mit Rechtssicherheit versorgen, ist Wissenschaft die Instanz für die
Überprüfung von Wissen usw. Der entscheidende Punkt ist aber, daß
tatsächlich alle Kommunikationen, die unter einem primären Code
ablaufen, gebündelt werden zu einem System wie Wirtschaft, die
Wissenschaft usw. Das bedeutet: jede Kommunikation, die den Code
wahr / falsch benützt, begründet das Wissenschaftssystem. Beim
Nachtleben tritt daher eine gewisse Schwierigkeit auf, denn nicht
alle Kommunikationen, die dem gleich eingeführten dominanten Code
entsprechen, finden nachts statt.
Man sollte
daher (um dem hier verwendeten Luhmannschen Theorieschema nicht
allzu deutlich zu widersprechen) das Nachtleben als Spezialfall
eines allgemeineren Prinzips, des mythischen Systems bezeichnen. Ein
mythisches System folgt keiner ausgeprägten Linearität, wie
beispielsweise einer Schriftlichkeit (daher wird dieser Text wohl
auch kaum im Nachtleben selbst gelesen werden können) sondern einer
magischen bildhaft-assoziativen Ereignishaftigkeit und seinen
Erfahrungen des Eins-Seins-mit-der-Welt. Der häufig gelesene
Vergleich der Raves mit vorgeschichtlichen kultischen Handlungen war
daher nicht unklug. Da ich aber über das Nachtleben und besonders
über den bislang vielleicht interessantesten Spezialfall, nämlich
den der Clubkultur, schreiben will, führe ich dieses mythische
System zwar in seinen Phänomenen in den Clubs immer wieder an,
befasse mich aber in diesem Text nicht weiter mit seiner generellen
Beschreibung. Natürlich mutet ein Begriff wie das mythische System
wie ein Paradox erster Klasse an. Entweder man wendet einen Code an,
der ein System bildet oder aber man schwelgt im
Eins-Sein-mit-der-Welt. Beides zusammen geht nicht. Und doch geht es
im Nachtleben durchgängig um eine Annäherung an die Grenze des
mythischen Erlebens im Sinne eines Beinahe-aber-noch-nicht-ganz.
Also kann hier eine solche Wortschöpfung doch einigen Erklärungswert
besitzen. Wenn man so will, könnte man das mythische System als
säkularisiertes Religionssystem begreifen.
Der Code des Nachtlebens
Worum geht es nun eigentlich im Nachtleben? Was ist sein Code, an
dem sich alle Kommunikationen orientieren? Was ist seine Funktion?
Dies ist bereits ein sehr heikler Punkt, an dem man streng genommen
gleich wieder aufhören könnte. Denn es wird in modernen
Gesellschaftstheorien häufig angezweifelt, daß es einen klaren Code
für die Freizeit gibt, zu der man ja das Nachtleben zählen muß. Zu
viele völlig unterschiedliche Freizeitaktivitäten (Schlafen und
Extremsport, Fernsehen und nachts Ausgehen) sind schwer nur mit
einem Code zu erfassen. Man kann lediglich von einer generellen
Ausgleichsfunktion für die während der Arbeitszeit nicht
angesprochenen Persönlichkeitsteile sprechen. Trotz dieser Vielzahl
von Phänomenen will ich versuchen, einen Code für das Nachtleben zu
formulieren, um zu sehen, wie weit man damit kommt.
Man hätte glauben können, daß es sich dabei um den Code hip / unhip
handelt, doch der ist in seiner Mainstreamform in / out eher dem
Modesystem vorbehalten. Und längst nicht alles, was nachts an
Kommunikationen abläuft, gehorcht diesem Code (siehe die
Kommunikationen in Eckkneipen). Die Clubszene konnte sich natürlich
nur mit der fortgeschrittenen Version des hip / unhip
zufriedengeben, obwohl keiner wirklich genau den Unterschied
benennen kann. Nachdem bereits in den Sechzigern die Unterscheidung
in / out geläufig wurde, mußte die Jugendkultur natürlich ein
anderes Begriffspaar betonen, das der gewünschten Abgrenzung zur
Mainstreamkultur wieder entsprach. Und sie hatte Erfolg damit: hip /
unhip blieb bis heute genau in den dafür vorgesehenen Kreisen. Aber
um den Phänomenen des Nachtlebens gerecht zu werden, benötigt man
einen erweiterten, dadurch vielleicht etwas diffusen Code. Nach
längerer Überlegung fiel meine Wahl auf eine sehr alte
Unterscheidung rauschhaft / nicht rauschhaft (wie bereits in
Nietzsches Unterscheidung dionysisch - apollinisch angelegt).
Dadurch unterscheiden sich in der Regel nächtliche Kommunikationen
von Tageskommunikationen.
Die
heterogenen Nachtlebensysteme bestehen wie alle sozialen Systeme aus
Kommunikationen, obwohl sich ihr Code wie kaum ein zweiter auf
Rauschzustände beziehen soll, die sich dem Verständnis sprachlicher
Kommunikation entziehen. Der Rausch ist natürlich der Zustand, in
dem Differenzen wieder aufgelöst werden sollen und zumindest eine
gewisse Verbundenheit mit der Welt angestrebt wird. Verlangt wird
also - wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens - ein
gesteigertes Auflösungs- und Rekombinationsvermögen, nur betrifft es
im Rausch nicht nur die Person (in der hochspezialisierten
Arbeitswelt bekommt man nur die Person und nicht den Menschen in den
Blick), sondern den ganzen Menschen. Rauschhaftigkeit bedeutet nun
allerdings nicht, daß sich die Leute sich stets darum bemühen,
völlig den Kopf zu verlieren, denn das tun nachts ja die Wenigsten.
Schließlich ist seit Freud ja für die Höherentwicklung der
Zivilisation eine Sublimierung der Rauschhaftigkeit eine gewisse
Vorbedingung. Vielmehr ist dieser Code so etwas wie ein lockeres
Grundprinzip, das in den unterschiedlichsten Zwischenstufen
realisiert wird, eine Orientierungslinie für alles, was nachts
kommuniziert wird. Es gibt zwar Menschen, die behaupten, daß sie
nachts genau so kommunizieren wie tagsüber, aber das beweist nur
einen gewissen Mangel an Sensibilität, denn die veränderten Umstände
und Verhaltensweisen der Kommunikationspartner fließen in eine gut
gemachte Kommunikation automatisch immer mit ein. Sonst lernt man
nichts, außer vielleicht einer gewissen Manipulationsgabe.
Space is what we need, room to be
Das Nachtleben
geschieht in verschiedenen Räumen: Straßen, Kneipen, Restaurants,
Kinos, Konzertsälen, Privatparties, Sex-Clubs, Open-Air-Raves,
Clubs. Jede Kategorie, jeder Ort und jeder Anlaß hat nun einen
unterschiedlichen Ausdifferenzierungsgrad (abhängig von der
Geschichte und Wiederholbarkeit, von der Stimulation durch den
jeweiligen Ort, von der massenmedialen Bewerbung, von den anwesenden
Personen usw.) Wer z.B. seine Nächte vor allem auf der Straße
verbringt, braucht sich nicht zu wundern, wenn da keine großen
Entwicklungsschritte, sondern nur kurze archaische Interaktionen
möglich sind. Diese Orte lassen kaum mehr zu. Ebenso kann man in
Kneipen vor allem nur das vermitteln, was man selbst mitbringt. Die
Gespräche über die spezifischen Eigenheiten der Kneipe oder über das
Sortiment an Getränken und Speisen bergen keine großen
Ausdifferenzierungsmöglichkeiten, ohne banal zu werden. Darüber
spricht man ab und zu, klar. Abendfüllend ist das aber nicht gerade.
In Sachen Raumgestaltung erwies sich das Clubleben als wesentlich
flexibler und entwickelte sich daher zum Motor des Nachtlebens.
Gerade in Berlin bot eine jahrzehntelang vernachlässigte Stadthälfte
genügend Räume für eine temporäre In-Besitznahme durch die Szene.
Wenn man sich
fragt, wie man die unterschiedlichen Erscheinungsformen des
Nachtlebens nennen kann, kommt man auf viele mögliche Bezeichnungen:
Institution, amorphes Konglomerat, Ersatzfamilie usw. Vielleicht
sollten wir uns aber darauf konzentrieren, was die Grundkonstante
ist: Es geht um Räume. Um Räume für die Sehnsucht nach einer etwas
freieren Form der Familie. Um Räume für die Gelüste, ein mehr oder
weniger sympathischer Nachfolger von Cortez und Pizarro zu sein
(Stichwort Open Air Raves) Kurz: um Ereignisräume aller Art (sei es
- wie in einigen Wohnzimmerbars - auch das Ereignis, garantiert
keine Ereignisse erleben zu müssen)
Für die mit
Beengung geplagten Großstadtmenschen, die nur wenige qm ihr eigen
nennen können und wenig Ereignisräume zur Verfügung haben, an denen
sie sich relativ frei bewegen können (im Gegensatz zum Kino und zum
Restaurant), besorgte die Clubkultur immer wieder neue Freiräume.
Allerdings waren viele Räume mit wenig Weitsicht gewählt, denn vor
allem die (ehemals) berlintypische troglodytische Sehnsucht nach der
Zuflucht unter der Erdoberfläche, plagte uns mit kalten Füßen und -
angesichts niedriger Decken - mit eingezogenen Köpfen und Gedanken.
Wenn man einen öffentlichen Raum einrichtet, muß man soviel
Raumverständnis, Begeisterung, Empathie und organisatorisches
Geschick aufbringen (und so auch Distinktionsgewinne gegenüber
anderen Räumen erreichen), um den Raum auf gewünschten Kurs durch
die Zeit zu halten. Eine gravierende Schwäche im Denk-/Gefühlssystem
der Betreiber (oftmals schlicht eine erlahmte Dynamik) führt
meistens dazu, daß der Raum irgendwann nicht mehr benutzt werden
wollte. Es ist eine schwer nachweisbare Eigenschaft des Raumes, daß
alle dort stattfindenden Vorkommnisse in seine Qualität mit
eingehen. Räume erhalten durch das in ihnen stattfindende Geschehen
eine Gerichtetheit, wenn man so will, eine Geschichte. Wer die
Gewordenheit eines Raums nicht respektiert und doch behutsam
fortwährend aktualisiert, muß erleben, wie er oft bei abnehmenden
Besucherzahlen an immer weniger informierte Kreise durchgereicht
wird. Die Tatsache, daß kaum ein Raum mehrere Jahre überdauert,
zeigt die außerordentliche Schwierigkeit, den Spagat zwischen
Traditionspflege und Erneuerung zu halten.
Die Funktion
des Nachtlebens
Das vorwiegend
strukturenaufbauende Tagesgeschehen erzwingt einen nächtlichen
Ausgleich für die unbefriedigten Bedürfnisse der Menschen nach Spaß,
Sex, lockeren Kommunikationen, Rauscherlebnissen, Abbau von
Aggressionen oder einfach nur streßfreier Entspannung. Die Funktion
ist also eine Bereitstellung von Möglichkeiten zur Auflösung von
starren Strukturen und zu lockereren Neuverknüpfungen. Die
Abgrenzungen zwischen den Menschen werden durch das nüchterne Licht
verstärkt. Nachts rücken die Menschen bei gedämpften Licht dann aber
näher zusammen, wollen sich kennenlernen. Es wird nämlich häufig
vernachlässigt, daß das absolut Wichtigste am Nachtleben die
Beziehungen zwischen den Menschen sind.
Mancher wird
jetzt einwenden, daß es bei verschiedenen Tagesfreizeitaktivitäten
um genau diese Rauschhaftigkeit geht (siehe Extremsportarten,
Abenteuerurlaub, MTV/VIVA angucken usw.). Diese Einwände sind
wichtig, weil sie die verstärkte Konkurrenzsituation markieren, in
der sich das Nachtleben in einer zusehends lust- und
spaßsimulierenden Gesellschaft befindet. Auch im Alltagsleben setzen
sich solche Begriffe langsam fest. Natürlich ist das nicht wirklich
als Verbesserung, sondern als Verbesserungssemantik zu verstehen. Es
klingt halt besser, wenn man beispielsweise „Erlebniseinkauf“
propagiert. Glauben muß man das ja gar nicht mehr, es geht ja
eigentlich nur um die kurzfristige Stimulation. Man kann also auch
tagsüber Phänomene beobachten, die auf das Erreichen von
Rauschhaftigkeit ausgelegt sind. Doch die sind im Alltag bei hellem
Licht zweifellos fehl am Platze und meist zu einem kümmerlichen
Dasein verurteilt (wie das meiste Parkbankgeschehen). Es ist kaum zu
bestreiten, daß dem Rausch als gesellschaftlicher Ausgleichsfunktion
die Dunkelheit zugewiesen wurde. Das verdeutlicht, warum die meisten
mythischen Vorkommnisse nachts geschehen. Vielleicht ist es auch
bequemer so, denn die Nacht beginnt vor der eigenen Haustür. Der
Wunsch, dies tagsüber zu erleben, bedarf hingegen meist weiter
Reisen (Snowboard-Urlaub, Tauchurlaub usw.), nicht unbeträchtlicher
Vorbereitungen (Fallschirmspringen) und nicht zuletzt gewisser
Kaufkraft für die Anfahrt, Equipment usw. (nun ist es auch kein
Wunder, daß man von einer boomenden Freizeitindustrie, nicht aber
von einer Nachtlebenindustrie sprechen kann). Dafür wurde man dann
allerdings mit einer (auch gesünderen) Erlebnistiefe belohnt, die
die normalen nächtlichen Ergebnisse bei weitem übertraf.
Differenz
statt Identität
Wenn wir
dauernd von Codes / Leitdifferenzen und von Kommunikationen
sprechen, sollte der grundsätzlich andere Ansatz noch etwas weiter
ausgeführt werden. Eine Differenz ist das grundlegendere Prinzip,
denn der herkömmliche Ansatz, Einheiten oder Identitäten
vorauszusetzen, unterschlägt, daß man erst eine Unterscheidung
gemacht haben muß, um eine Einheit (also einen Begriff, einen
Gegenstand usw.) formulieren zu können. Um von Einheiten sprechen zu
können, muß man sie bereits von allem unterschieden haben, was nicht
diese Einheit ist (im Sinne einer Figur-Hintergrund-Unterscheidung).
Daher sind alle wirklich zeitgemäßen Theorien differenztheoretisch.
Die meisten Alltagsbeobachtungen gehen allerdings noch von Einheiten
aus. Doch das beginnt sich zu ändern, denn es läßt sich eine
vermehrte Beachtung von Differenzen im Vergleich zu kontinuierlichen
Einheiten aufspüren. Jeder wird sich vielleicht an die aufbrandende
Stimmung erinnern können, wenn jemand aus der tanzenden Menge auf
den Tresen steigt und dort zu tanzen anfängt (siehe auch die
Differenz zwischen Oben- und Untenstehenden bei der Loveparade).
Ohne (nicht zu komplexe) Unterschiede tut sich hier nichts. Wie oft
vergessen wird, ist der Mensch ein reines Vergleichswesen
(schließlich gibt es ja auch keine einzige geeichte Instanz im
Organismus).
Erst durch die
Ziehung einer Differenz entstehen Welten. Wenn wir wie ein
Tiefseefisch leben würden, der nie die Differenz einer
Meeresoberfläche gesehen hat, würden wir nicht wissen, daß wir im
Wasser leben. Was vor einer Differenz liegt, darüber gibt es streng
genommen keine sprachliche Unterscheidungsmöglichkeit, also kann man
nach Wittgenstein auch nicht darüber sprechen. Das ist die
hypothetische Sphäre der Glaubenssätze. Es erscheint aber inzwischen
wesentlich brauchbarer (weil im Gegenwartsdenken anschlußfähiger),
von realistischen zu konstruktivistischen Ansichten überzugehen, die
keine feste Realität, sondern nur jeweils unterschiedliche
Möglichkeitshorizonte annehmen (diese Problematik der sich
auflösenden Realität verdanken wir vor allem den Experimenten der
Quantenphysik). Jedes selbstorganisierte System kann nicht anders,
als durch jede einzelne aktuelle Differenzziehung seine eigene
Wirklichkeit zu konstruieren. Gemäß Luhmann ist diese Operation der
Differenzziehung das Einzige, was die Bezeichnung real verdient
(also nicht das voneinander Unterschiedene, sondern der Akt des
Unterscheidens). Obwohl dies den meisten irgendwie schon bekannt
vorkommen mag, haben es doch nur Wenige wirklich realisiert, daß nur
sie gemäß ihrer eigenen Perspektive ihre eigene Wirklichkeit, ihre
eigenen Unterscheidungen erzeugen.
Im
Konstruktivismus (vor allem bei Heinz von Förster) wird deutlich,
daß die Verschleierung der Perspektive des Beobachters die Illusion
von objektiven Tatsachen und Wahrheiten erzeugt, die Menschen ihr
Recht zu eigenen Beobachtungen abzusprechen versucht. Wahrheit ist
demnach also eine Erfindung eines Lügners, der mitunter diese
Wahrheit dann gerne dazu hernimmt, den anderen auf den Kopf zu
schlagen. Es ist aber eine immer weiter um sich greifende Einsicht,
daß man von keiner Informationsübertragung von der Umwelt in den
Organismus sprechen kann. Der Originalreiz geht bereits beim
Eintritt in das unspezifisch codierende Nervensystem verloren.
Information erzeugt der Organismus aus diesen einzelnen
Nervenimpulsen auf aktive Weise selbst. Und jeder sollte sich nun
fragen, ob seine Unterscheidungen denn gut oder schlecht gemacht
sind. Nicht mehr im Hinblick auf Wahrheit (denn alle
Unterscheidungen sind gleich „wahr“), sondern im Hinblick auf die
Brauchbarkeit seiner Differenzziehung. Indizien für solche geistigen
Entwicklungen kann jeder aufmerksame Beobachter immer häufiger
feststellen. Es wird inzwischen stärker auf das Funktionieren, denn
auf objektive Wahrheit abgestellt und es wird deutlicher auf
Übergänge, Wandlungen, Neuheiten geachtet, denn auf kontinuierliche
Identitäten und Ewigkeiten. Natürlich kann man weiterhin an
Kontinuitäten glauben, klar. Es bringt nur immer weniger.
Kommunikation
Soziale
Systeme bestehen nach Luhmann nicht aus Menschen, sondern aus
Kommunikationen, die einem jeweiligen Code folgen. Kommunikation
läuft hauptsächlich über Sprache, aber auch über nichtsprachliche
Gesten und Verhaltensweisen, die vom Empfänger als Mitteilung
verstanden / mißverstanden und mit einer Gegenmitteilung beantwortet
werden. Wichtig dabei ist nur, daß die Kommunikation weiterläuft.
Dieses Hin und Her, egal ob Verstehen oder Nichtverstehen geschieht,
nennt man Kommunikation. Nichtverstehen beendet Kommunikation
natürlich meist schneller. Unter diese Definition fallen keine
unbewußten Anpassungen an ein Gegenüber. Erst wenn man zwischen
Information und Mitteilung und zwischen Mitteilung und Verstehen
unterscheiden kann, wollen wir das Kommunikation nennen. Und wenn
sich dieses Hin und Her um einen bestimmten primären Code dreht,
wird dadurch in der Folge eine Sonderkommunikationsform und dadurch
ein bestimmtes soziales System ausdifferenziert. Beispielsweise ist
die Sonderkommunikationsform der Massenmedien dadurch
gekennzeichnet, daß keine direkte Interaktion möglich ist, sondern
sich die Feedbackschleife erst durch Verkaufszahlen und
Einschaltquoten schließt. Ein soziales System existiert immer nur in
der es aktuell begründenden spezifischen Kommunikation. Dies nur, um
Vorstellungen von starren Strukturen überhaupt erst gar nicht
aufkommen zu lassen. Man kann also je nach dem Code, dem man gerade
folgt, entweder das Wirtschaftssystem, das Wissenschaftssystem usw.
ausdifferenzieren. Kommunikation ist natürlich nicht nur auf Sprache
beschränkt, sondern kann auch mittels Gesten, Musik,
Körperbewegungen, Kunstwerken (im Kunstsystem) usw. geschehen.
Mit der
Ausdifferenzierung eines sozialen Systems schwindet nahezu
notwendigerweise die Betonung der aktuellen Interaktion zwischen
Anwesenden. Mit der Wiederholung von gewissen Arten der Interaktion
werden nämlich kontinuierliche Eigenheiten, wiedererkennbare
Zeichen, vor allem aber Vergangenheiten und Erwartungshaltungen
geschaffen. Es werden dann bevorzugt jene Aspekte beachtet, die über
die jeweilige Situation hinausweisen (wie z.B. die eigenen
Erfahrungen in vergangenen ähnlichen Situationen; man vergleicht
Flyer mit vergangenen Flyern). Man bringt ähnliche Ereignisse in
eine geschichtliche Reihe und wertet dadurch häufig die jeweilige
aktuelle Situation ab. Die Ausdifferenzierung der Clubkultur ging
hier erheblich weiter als andere Formen des Nachtlebens, denn nur
diese hatte einen eigenen Boom bei der Flyergestaltung, der
Plattenproduktion, der dazu eigens entwickelten technischen Apparate
und nichtzuletzt der spezifischen Kommunikationen darüber zur Folge.
Die Frage ist nun: Hat man es in der Clubkultur noch mit einem
Interaktionssystem zu tun (das auf die Beteiligung der Anwesenden
abgewiesen ist) oder sind die Ausdifferenzierungs- und
Geschichtsbildungsprozesse so weit fortgeschritten, daß man es mit
einem Teilsystem der Gesellschaft zu tun hat? Ich würde es ein
Mittelding nennen, denn die eigentliche Stärke und ursprüngliche
Intention der Clubkultur war, auf das Anwesende Bezug zu nehmen,
doch dies ist immer seltener der Fall. Die Definition eines
Teilsystems der Gesellschaft, daß es auch ohne die körperliche
Anwesenheit der Beteiligten auskommt (ein Richter kann einen
Angeklagten auch verurteilen, ohne daß er anwesend ist, das Urteil
gilt trotzdem), ist vielleicht in der Clubkultur noch nicht gegeben,
doch die abnehmende Beachtung der gegenwärtigen Interaktion ist
allzu deutlich und droht der Clubkultur inzwischen massiv zu
schaden.
II. Clubkultur
Mit diesen
theoretischen Vorbedingungen versehen, interessiert mich jetzt im
wesentlichen ein spezieller Teil des Nachtlebens, die Clubkultur.
Sie hatte vor allem im letzten Jahrzehnt mehr als jeder andere
Aspekt des Nachtlebens eine gewaltige Ausdifferenzierung erfahren.
Das lag vor allem daran, daß die Jugendlichen diese Angelegenheit
komplett selbst in die Hand nahmen. Doch diese Entwicklung könnte
sich, wie bei Euro-Dance / Boy Group - Teeniegroßveranstaltungen
bereits geschehen, wieder umdrehen. DJ-Culture, Fortschritte in der
Veranstaltungstechnik und -organisation, kompetenter Umgang mit
Verbreitungsmedien und Geschicklichkeit in der Suche nach immer
neuen Veranstaltungsorten und Ecstasy-Hochkultur waren einige der
Grundbedingungen des Aufschwungs. Nun, daran hat man sich inzwischen
weitgehend gewöhnt und vielleicht sollte man sich jetzt genau
ansehen, wie es gegenwärtig aussieht.
Clubkultur
galt in der klassischen Soziologie als Übergangsstadium der
Jugendlichen, in dem der Lebenspartner gefunden werden sollte und
wurde als Ausdrucksmöglichkeit mittlerer bis unterer Sozialschichten
gesehen. Der durch die Technogeneration geprägte Begriff „raving
society“ zeigte an, daß diese klassische Beschreibung schon eine
Weile nicht mehr ausreichte (wenn auch die Übervierzigjährigen immer
noch eher spärlich vertreten sind). Einerseits war damit gemeint,
daß sich das rauschhafte Prinzip aus dem Clubleben in den Tag
fortpflanzte und es andererseits nicht ausschließlich nur von
Jugendlichen betrieben wurde. Und die Sache mit der Partnerfindung?
Beziehungen wurden immer stärker temporalisiert, der
Lebensabschnittspartner ersetzte den Lebenspartner. Was bedeutete,
daß man bis ins Alter ausgedehnt und eigentlich häufiger auf die
Suche gehen mußte. Und solange man nicht in der Lage ist,
vielversprechende Partner auf der Straße und in der U-Bahn
anzusprechen (traut sich keiner, brauchen wir gar nicht weiter
darüber zu reden), sollte man das Nachtleben doch eigentlich nicht
auf die Jugendzeit beschränken, oder? Die Nachtclubs haben
inzwischen allerdings in Punkto Suche nach Sexualpartnern starke
Konkurrenz erhalten. Man beachte nur die unzähligen gelungenen neuen
Ideen, das menschliche Bedürfnis nach Sexualität in neue
Marktbereiche zu locken (Phone-Sex, Sex-Urlaub, Erotik-Sendungen,
Internet, Kontaktanzeigen, Single-Parties usw.) Man mußte den
Sexualpartner nun nicht mehr vorrangig in den Clubs suchen. Ob das
mit der Sexualität allerdings in den Neunzigern noch klappt, will
ich gar nicht weiter ausführen, lediglich Baudrillards Satz
anmerken: Keine Sexualität übersteht ihre Befreiung.
Codeverwechslung
Das
wiederholte Mißverständnis, den in der Clubkultur primären Code
rauschhaft / nicht rauschhaft durch hip / unhip zu ersetzen (eine
gewisse Anfälligkeit dafür tauchte auch immer wieder in vergangenen
Jahrzehnten auf (z.B. im New Wave), führte dazu, daß Bewegungen
entstanden, die nicht mehr direkt den Rauschcharakter anvisierten,
sondern sich vor allem auf die Erzeugung von als hip definierter
Neuheit konzentrierten. Das Heer der Hip-Aussehenden folgte und
bemerkte eine gewisse Zeit überhaupt nicht, daß ihnen
Exstasemöglichkeiten verwehrt blieben und sie dadurch
Exstasefähigkeiten verlernten. Ein Wunder ist diese Codeverwechslung
nicht, denn daß der / die coole Hipster/in meist stärker begehrt
wird, als der / die Exstatische hat jahrzehndelange Tradition. Wer
den Film „Mephisto 68“ gesehen hat, weiß genau, was ich meine. Das
Clubleben ist unter dem Druck der permanten Sensation zur leeren
Apparatur geworden, in der sich selbst Hipness nicht mehr mühelos
herstellen läßt.
Anybody seen the collective?
Nach dem
Wegbrechen der großen dauerhaften Kollektive - auch des Kollektivs
des „großen neuen Dings“ - sind wir plötzlich auf uns alleine
gestellt. Das führt dazu, daß sich am frühen Abend große Scharen
junger Menschen, die ihre Individualisierung weitgehend verwirklicht
haben, in ihrer Flyer-Analyse meistens darauf konzentrieren, wo denn
das große temporäre Kollektiv diese Nacht zu finden sei. Das
Vielversprechendste wird dann ausgewählt. Dahinter steckt die
Sehnsucht nach dem abhanden gekommenen Kollektiv, das natürlich - um
nicht wieder in einen überkommenen kollektiven Zwang zu geraten -
nur noch eigenverantwortlich und temporär ausgesucht wird.
Selbstverständlich ist die Suche nach dem begehrtem Großereignis ein
Plan, der kaum gelingen kann, denn auf den paar Highlights des
Abends trampelt man sich dann zu Tode. Dieses Maß an zielgerichteter
Professionalität im Aufspüren von Kollektivereignissen überrascht
mich immer wieder. Anscheinend ist man ohne diese Fähigkeit so etwas
wie der Analphabet der Neunziger. Diejenigen, die die
Außenseitervenues aufsuchen, haben ihrerseits dann häufig mit dem
schlechten Gewissen zu kämpfen, daß sie etwas verpaßt haben könnten.
Außerdem standen sie so meist in halbleeren Räumen herum. Und Leere
ist nicht gerade sexy.
Um viele
Menschen auf eine gute Party zu vereinigen, braucht es natürlich
einen Grund. Ein guter Grund war traditionellerweise die von allen
erkannte Seltenheit bzw. Erstmaligkeit des Ereignisses, also
beispielsweise ein internationaler Act, der für „Geschmack“ bürgen
sollte. Wie man bei den Auftritten verschiedener Integrationsfiguren
der Szene (Kruder & Dorfmeister, Massive Attack, Towa Tei)
feststellen konnte, kam es aber dann doch immer ganz anders. Man
konnte beobachten, wie die DJs angesichts der Last des (mitunter
unerwartet) über sie hereinbrechenden Projektionsüberschusses zu
lausigen oder banalen Sets herabgewürdigt wurden, das Publikum sich
hingegen in wahren Jubelorgien eigentlich nur selbst feierte. Weil
sie zu den vermeintlich Privilegierten der Nacht gehörten. Sie
hatten alles richtig gemacht: Sie hatten den besten Geschmack
bewiesen, kannten sich aus, was am angesagtesten war und sie waren
da. Trotzdem blieb das Ganze schal.
Aber nicht nur
aus diesem Grund gibt es Probleme mit der Seltenheit. Es liegt in
der Natur des Systems der Massenmedien, daß öffentliche
Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist und nur ganz wenige Acts die
Möglichkeit haben, allgemein bekannt zu werden. Nun gibt es aber
zahlreiche Clubbesitzer, die einen besonderen Act buchen wollen, da
er automatisch den Laden füllt. Dieses krasse Mißverhältnis zwischen
den wenigen projektiv überzeichneten Weltklasseacts und den vielen
Clubs führt zu kaum mehr tragbaren Preisverhältnissen. Der
Wettbewerb um die Attraktionen überreizt das Publikum, da
logischerweise nur noch die Besonderheit registriert wird. Manch ein
Club verbrannte sich mit etwas unbekannteren internationalen Acts
die Finger. Hohe Bookingkosten konnten nicht mehr ausgeglichen
werden. Ein regelmäßiges Nachtleben kann spätestens dann nicht mehr
funktionieren, wenn alle Erwartungshaltungen nur auf dargebotene
Besonderheiten ausgerichtet sind. Hält man sich also einige Jahre im
Nachtleben auf, entsteht bald ein gewisses Problem mit der ständigen
Suche nach dem Neuen. Man sollte es vielleicht ganz klar
aussprechen: das Neue kommt immer seltener durch die Clubkultur in
die Welt (man könnte gar die Vermutung äußern, daß es nur noch die
Werbeindustrie ist, die das Bild einer funktionierenden Szenekultur
erhält, weil es ein verkaufsförderndes etabliertes Image darstellt).
Was tun, wenn
uns das Neue ausgeht?
Es gibt in der
Informationstheorie aber zwei Faktoren, die das Maß der Bedeutung
einer Information bestimmen, Erstmaligkeit und Bestätigung: Wie neu
ist etwas für mich? Und wie gut paßt es zu meinen Strukturen? Beides
muß hoch sein, damit etwas große Bedeutung besitzt. Es scheint, als
habe sich der Schwerpunkt im Nachtleben vom deutlich dominierenden
Faktor Erstmaligkeit in Richtung Bestätigung verschoben. Dieser
Übergang ist unbeeinflußt vom Generationswechsel (junge Menschen
sind mehr auf Erstmaligkeit aus als ältere) und wurde vom Übergang
der Nichterwartbarkeit in Erwartbarkeit begleitet. Für eine sehr
lange Zeit war die Nichterwartbarkeit anschlußfähiger, sie trieb
wegen ihrer geheimnisvollen Verlockung sehr viele Leute quer durch
das Nachtleben. Da man aber an den meisten Orten ein ähnlich
diffuses Publikum vorfand, ging man dann doch wieder nur in seine
Stammclubs. Vereinzelte Neueröffnungen konnten für eine Weile wieder
Informationswert bringen. Inzwischen schlossen aber infolge externen
Drucks (die Stadt wird enger) mehr Clubs als eröffnet wurden, und
selbst auf die wenigen neuen war man immer weniger neugierig. Man
ging erst dahin, wenn man von mehreren Seiten Gutes gehört hatte.
Aber auch in den Kommentaren der Freunde konnte man immer häufiger
Negatives und immer seltener Begeisterung heraushören. Inzwischen
scheint also genau das Nichtwissen, das Unbekannte im Nachtleben
weniger anschlußfähig zu sein. Denn Leute gehen nur noch dorthin, wo
sie sicher wissen, daß sie etwas Nicht-Schlechtes zu erwarten haben,
da sich die Nichterwartbarkeit in den seltensten Fällen als
Glückgriff erwiesen hatte. Wissen sie also nichts, verlassen sie
meist erst gar nicht mehr das Haus (dorthin haben sie sich
zurückgezogen, von dort muß man sie wieder herauslocken; daher
bekommt man immer mehr persönliche Infopost zugeschickt). Natürlich
will ich damit keine völlige Erwartbarkeit befürworten, denn auf
diese Weise entstehen keine bedeutsamen Informationen mehr und das
Ganze wird schnell langweilig. Dies gilt vor allem in der
Kurzlebigkeit des Clublebens. Man kann schließlich nie exakt zweimal
den gleichen Weg zur Rauschhaftigkeit gehen. Es sollte lediglich der
gegenwärtigen, ungeschickten Überbetonung auf Erstmaligkeit ein
sinnvolles Gegengewicht verpaßt werden.
Vom Globalen
zum Lokalen
Nach dem
Abflauen der Überzeichnungen des Globalisierungswahn in der
Clubkultur (z.B. multinationale Phänomene wie MTV werden durch
nationale ersetzt; globale Hypes setzen sich nicht mehr so einfach
durch wie früher) kann man langsam erkennen, daß jeder Ort einen
Eigencharakter mit dazugehöriger Geschichte - oder genauer:
erfahrungsabhängigen Ausdifferenzierungsgrad - aufweist. Es gibt
eben völlig verschiedene ökologische Nischen und das wird so
bleiben. Da die meisten Menschen noch nicht darauf geübt sind,
Komplementaritäten wahrzunehmen, geriet die ebenso zunehmende
Lokalisierung außer Acht. Globalisierung gilt eben nur vorrangig für
elektronische Kommunikation und Produkte, die auch für den globalen
Markt entwickelt werden. Der Rest ist unrettbar lokal. Und nachdem
die Clubszene früher Vorreiter für ein globales Lebensgefühl war,
ist sie jetzt möglicherweise auf dem Weg, dasselbe für ein neues
lokales Lebensgefühl zu werden. Propaganda-Akte, die in der
Clubszene noch einen globalen Style durchsetzen wollen, der mit den
lokalen Eigenheiten nicht verknüpfbar ist, bewegen sich daher
mittlerweise am Rande der Lächerlichkeit (z.B. Speed Garage).
Hier ist nun
also Berlin mit seiner eigenen Geschichte, die sich im Nachtleben im
Regelfall auf ein paar Jahre beschränkt. Genau die in dieser Zeit
gemachten Erfahrungen muß man aufgreifen können. Jeff Koons hat das
begriffen, wenn er sagt, daß man seine kitschige Vergangenheit
umarmen können muß, statt sich von ihr peinlich berührt zu fühlen.
Genau das ist der Ausgangspunkt. In Berlin hat man es mit einer
abgeklärten Nachtlebenszene zu tun, die alles irgendwie schon weiß,
alles irgendwie schon erfahren hat. Dieses Wissen ist in der Regel
aber nur als Bedauern oder „Ich war dabei“-Erlebnisberichte
kommunikabel. In beiden Fällen kann es jedenfalls zu keiner
gelungenen Kommunikation mehr kommen. Dieses schlummernde
Erfahrungswissen gilt es nun mittels Clubausstattung und durch das
DJ-Set aufzugreifen und in die Gegenwart einzuweben. Nicht im Sinne
einer Nostalgie, sondern um aufzuzeigen was noch alles Gegenwart
sein kann, denn auch Erinnerungen geschehen immer nur im Jetzt. Die
ausschließliche Orientierung am Neuen verschenkt dies nur allzu
gerne.
Berlin-Dorf
Berlin - eine
Großstadt? Doch größtenteils nur für die auswärts produzierenden
Medien. Für die Berlinerfahrenen wirkt es längst wie ein Dorf. Um
die von aufreizender Propaganda ermüdeten und zur Reflektion
gezwungenen Einheimischen wirklich zufrieden zu stellen, braucht es
etwas, das die selbstverschuldete oder zumindest mitgeglaubte
Entfremdung durch den fortwährenden Berlin-Hype überwindet. Das
könnte etwa zur finalen Einsicht führen, daß man an einem festen Ort
lebt, den man nicht nur ständig zum eigenen Mißvergnügen für die
große weite Welt halten sollte. Das legt nahe, Berlin als Dorf zu
sehen. Ein Dorf braucht mehr Dorf-DJs. Unser Dorf soll schöner
werden! Und wie wird es das? Es benötigt Orte, an denen man sich als
Wissende aufhalten kann, innerhalb von Umständen, die man wirklich
will. Die Entwicklung zu einem beschaulichen Ort an jeden Wochentag
ging diesen Weg. Kurz: das Aufkommen der
Montags-Dienstags-Mittwochs-Bars. Ein garantiert gefüllter Ort
(remember: the temporal collective), an dem man sich gewiß
verabreden kann. Bislang waren diese Orte aber nur diffus durch
erwartbare Sounds untermalt. Selten konnte man jedoch dort sicher
den Sound erwarten, den man wirklich hören wollte. Den Sound, der
die unterschiedlichen Ausgehmotivationen hätte bündeln können.
Das schwache
Glied waren hierbei die DJs, die das Ganze zumeist nicht überblicken
konnten. Die zu sehr Spezialisten, denn Generalisten waren. Es gab
natürlich immer auch die diffusen Generalisten, die von Abba bis Rex
Gildo Stimmungsmusik spielten und die westdeutschen
Provinzerfahrungen des Publikums bündeln konnten. Eine Zeit lang
liefen Revivalparties und Retrophänomene dem eher auf Aktualität
ausgerichteten Clubleben den Rang ab. Wenn man das etablierte
Clubleben aufsuchte, verlebte man unter Garantie einen langweiligen
Abend (inzwischen ist dies wieder eher andersrum). Diese fröhlich
dilettierenden Party-DJs gerieten schnell zu einem weiteren
Klischee, das eilig von den tagesverkrampften jungen Menschen
vereinnahmt wurde. Kurzzeitig erschien das Phänomen der DJ
-Everybody - Parties. Jeder der Platten mitbrachte, durfte 20
Minuten auflegen.Wieviele Tücken allerdings solch ein Konzept in
sich barg, merkte man erst später. So richtig kool konnte das nie
werden, daher wurde dieser Trend schnell wieder aufgegeben. Diese
Phänomene konnte man als erstes Aufbegehren gegen eine erlahmte
Atmosphäre der DJ-Culture werten, denn euphorische Stimmung war auf
Schlager-, 70 er und 80 er Jahre-Parties meist garantiert.
Bei alldem
blieb die Differenz Club-DJ - Party-DJ bestehen, die Kluft wurde
sogar immer größer. Alle Club-DJs, die viel Mühen und Technik
aufwendeten, um sich ihren internationalen Vorbildern anzunähern,
versuchten daher, sich um so stärker von den Party-DJs abzugrenzen.
Dies geschah jedoch meistens nicht aus Arroganz, sondern aufgrund
der Eigendynamik einer Professionalisierung. DJs, die sich mehrmals
die Woche auf die Suche nach ihren Sounds begeben, haben in Sachen
Musik eine professionell verkürzte Aufmerksamkeitsspanne und geraten
zusehends in den Sog der Neuerscheinungen, hinter denen jeder her
ist. Diese Fokussierung auf das jeweils Neueste gleichen sie dann
durch einige der verbrauchtesten Klassiker aus. Außerdem sind sie
längst in eine Sonderkommunikationsform eingetreten. Die Mehrzahl
der DJs redet fast ausschließlich nur mit DJs und Plattendealern und
auch das meist nur unglaublich kurz und zweckorientiert. Die andere
Fraktion redet dann hingegen viel zu viel.
Some problems with the DJ generation
Die
verwirklichte Massen-DJ-Kultur zeigt sich an der Absurdität des
allwöchentlichen rat race der DJs. Durch die Unzahl der
Veröffentlichungen kommt ein Großteil der Platten nur in minimalen
Stückzahlen auf den Markt. Sind diese vergriffen, kommt man nur noch
sehr schwer oder gar nicht mehr an sie heran. Nachbestellungen
werden zur mühsamen, nicht lohnenden Kleinarbeit und werden von der
Mehrzahl der Plattenläden einfach nicht mehr geleistet. Will man nun
das Ersterscheinen gar nicht erst verpassen, muß man mitunter zu
bestimmten Uhrzeiten an festgelegten Tagen in den jeweiligen Läden
sein und als erster die eben eingetroffene Lieferung abfangen.
Ebenso kann man sich einen zu späten Gang zu Flohmärkten und
Plattenbörsen gleich sparen. All das erforderte ein viel höheres Maß
an Professionalisierung. Wer diese Klippe genommen hatte, tappte
allerdings nicht selten in die Falle, eben nur die neuesten bzw.
seltensten, aber nicht unbedingt auch guten Stücke zu spielen. Die
Daseinsform eines DJs birgt aber noch weitere Tücken. DJs denken -
oder sollte ich sagen fühlen - zu einem Großteil ihrer Zeit in nicht
bzw. schwer kommunizierbaren Soundvorstellungen. Wie alle Idealisten
hoffen sie auf Rezipienten mit gleichem Geschmack. Denen begegnet
man als DJ nur leider fast nie. So kommt es nahezu zwangsläufig zu
einer gewissen Abschottung oder gar Abneigung gegenüber seinen
Zuhörern. Gegenüber ihren Wünschen, gegenüber ihren Fragen,
gegenüber ihren Tanzstilen. Es waren eben nie die „Richtigen“. In
einer Großstadt ist es leider auch nahezu unmöglich, einen festen
Kreis aus Genießern um sich zu scharen. Selbst wenn man sich als DJ
einen Namen erarbeitet hat, hat man längst nicht ausgesorgt. Der
Unbesiegbarkeitsnimbus ist nämlich schnell dahin, wenn man
beobachten kann, daß sich selbst die hochrangigsten Resident-DJs mit
etablierten Markennamen während der Woche oder an den falschen Orten
sich vor 50 Leuten durch den Abend quälen müssen. Das Publikum folgt
also keinem DJ-Namen allein (so konnte man dann auch
konsequenterweise vor kurzem als Partyankündigung lesen: „Auflegen
tut ein DJ“)
Auch die
Vertiefung in die Mixtechnik reduzierte die Kommunikation ganz
erheblich. Ganz banal gesehen konnte man mixende DJs kaum mehr
ansprechen und es führte häufig dazu, daß man viele DJs nur noch
dabei beobachten konnte, wie sie arbeiteten, ohne den Kopf zu heben.
Infolgedessen beachtete auch das Publikum den DJ gar nicht mehr
richtig. Als wären DJ und Publikum gar nicht mehr für einander
zuständig. Es lief also zusehends schief in der Kommunikation
zwischen DJ und Publikum. Traditionelle Feedbackschleifen wurden
entkoppelt und so manche DJs wählten ein Selbstverständnis als
mitunter autistischer Record-Artist. Das nächtliche Auflegen wurde
als Training gesehen und diese Fähigkeiten und dies Wissen
schließlich für eigene Produktionen genutzt. Auch hier geschah nicht
gerade selten eine Codeverwechslung. Mal betrachteten sie sich als
Teil des Kunstsystems und erzwangen ein gewisses Bestaunen ihrer
experimentellen, akustischen (ähem) Skulpturen. Mal erinnerte ihre
Akrobatik an das Sportsystem. Man wagte dann gar nicht mehr
einzuwenden, daß man eigentlich zum Tanzen, zur Party hergekommen
war.
Die DJs hatten
sich aus der direkten sprachlichen (und leider häufig auch aus der
musikalischen) Kommunikation verabschiedet, machten aber ab und zu
komische neue interessante Sachen. Das hatte schließlich zur
euphorisch bejubelten DJ-Kultur geführt, wie wir sie kannten. Doch
erweist sich dieser Weg als recht einseitig. Denn wie leicht
inzwischen mit moderner Technik halb-okaye Stücke zu produzieren
sind, kann jeder nach einem Test der neuen Softwareprogramme wie
bspw. Music Maker ermessen. Wie sehr diese kreativen Möglichkeiten
aber aus dem Ruder gelaufen sind, merkt man spätestens dann, wenn
man sich stundenlang durch die neuesten heiß empfohlenen Platten
hört und kaum auf eine relevante neue Idee und erst recht auf kein
wirklich befriedigendes Stück stößt. Okay, wir leben in den
Neunzigern und man sollte sich längst darauf eingestellt haben, daß
man es da draußen mit einer irrsinnig großen Menge Trash zu tun
bekommt. Doch die Mengenverhältnisse zwischen hervorragenden und
mittelmäßigen Stücken hatten sich auf eine Weise zur Mittelmäßigkeit
hin verschoben, die alle Beteiligten abstumpfen ließ. Gelangweilte
DJs spielten langweilige Tracks vor gelangweiltem Publikum. Die
nahezu ereignisarmen Sets führten entweder zu indifferentem oder
eher feindseligem Verhalten des Publikums. Begeisterte Kommentare
über DJs sind schließlich selten geworden. Sie mußten fast
zwangsläufig ihre angestammte Funktion aus den Augen verlieren:
durch ihr Set die starren Tagesstrukturen aufzulösen und
Neuverknüpfungen im Rausch der Musik - sexueller oder
alltagseuphorischer Natur - zu ermöglichen.
Mixing
Das Mixen, der
Inbegriff des modernen DJings wurde in allen Zeitschriften und
Büchern als neugefundene Freiheit umjubelt. Ich denke, jeder kennt
die Argumente dafür. Gibt es auch welche dagegen? Muß es nach
einigen Jahren durchgesetzter Massen-DJ-Kultur inzwischen einer
Überprüfung unterzogen werden? Es scheint inzwischen ein Umschwung
eingesetzt zu haben. Es mehren sich die Stimmen, die sich über zu
deutliche Eingriffe des DJs in die Stücke beschweren. Deutlich
veränderte Geschwindigkeiten verärgern diejenigen, die die Stücke
mögen, dasselbe gilt bei zu spätem Einblenden oder zu frühen
Ausblenden, Einlagen wie Scratching werden längst nicht mehr von
jedem akzeptiert. Das dominante Hochdrehen der Bässe ist nicht mehr
unumstritten. Am deutlichsten wird aber kritisiert, wenn durch
Beat-in-Beat-Mixen ein stundenlanger einheitlicher Brei erzeugt
wird. Mit den Freiheiten ist es also nicht mehr so weit her. Gerade
die Erzeugung von Kontinuität durch möglichst unhörbare Übergänge
würde ich als primäre Falle des Mixens bezeichnen. Unter Ecstasy
eventuell magisch, schläfert es unter anderen Umständen mitunter
ein. Denn der Verlust von Taktunterschieden, das Verschleiern von
Differenzen ist häufig nur eine schlecht gemachte Reizdeprivation
und das ergibt nunmal eher eine stumpfe Berauschtheit.
Häufig neigten
DJs dann dazu, die Platten nach dem Beat auszuwählen und nicht nach
Aspekten des Spannungsverlaufs. Fülltitel galore wurden eingebaut,
manches Set schien fast nur aus Fülltiteln zu bestehen. Technik nahm
ganz klar Vorrang vor der Qualität der Stücke ein und die
Orientierung an den wenigen DJs, die legendäre technische
Fertigkeiten aufweisen, hat zu einer einseitigen Zielrichtung
geführt. Jene wirklich großartigen DJs hatten aber neben den
technischen Fertigkeiten auch eine besondere Perspektive, einen
besonderen Geschmack. Auf letzteres wurde stets geringer geachtet,
weil es von jeher einfacher ist, technische Fertigkeiten zu
kommentieren als inhaltliche Qualitäten. Mich selbst macht
Kontinuität nervös, weil sie nicht stimmen kann. Es läuft
grundsätzlich etwas verkehrt, wenn man den ganzen Abend nur ein
einziges Stück hört. Die Verschleierung der grundlegenden
Diskontinuität des Lebens darf zumindest in kein Verwaschen von
Besonderheiten führen. Natürlich werden DJs weiter mixen, aber
einige fangen an, es nicht mehr so gleichförmig zu tun. Ich muß
allerdings zugeben, daß mich die Erfindung des Mixens nie dauerhaft
überzeugen konnte, weil es das Machtgefälle und die Tendenz zu
unmündigem Verhalten des Publikums deutlich verstärkte. Es machte
wenig Spaß und bedurfte einer hohen Frustrationstoleranz, wie ein
Schaf manch überflüssigen Einfällen des DJs folgen zu müssen.
Nachdem das Mixen zum Allgemeingut geworden ist, birgt es kaum mehr
Informationswert. Dies bietet alles in allem inzwischen nicht gerade
den höchsten Anreiz, es noch zu lernen.
Deutlich wurde
dies besonders am Phänomen des jugendlichen DJ-Genies. Die sich
inzwischen immer stärker separierenden Altersstufen werden durch
technische Fertigkeiten allein nicht gewinnbringend überbrückt, weil
Geschmack im wesentlichen co-ontogenetisch, d.h. durch gemeinsam
verbrachte Lebenszeit geprägt ist. Man hatte den DJs lange Zeit
ungestört die Verantwortung für den Abend überlassen, da sich der
Respekt vor den Mixkünsten und dem Mehrwissen in Sachen Musik in
einer Art asymmetrischer Arzt-Patienten-Beziehung ausdrückte. Doch
Ärzte, die Kunstfehler begehen, werden immer häufiger verklagt.
Ebenso sind Ansätze spürbar, daß sich das Publikum aktiver in die
Gestaltung des Abends einmischt. Die Ungeduld wird größer und die
Schonzeit für DJs scheint vorüber.
Natürlich
schlägt im Zweifelsfalle jeder DJ mit gutem Geschmack, der mixen
kann, einen DJ, der nicht mixen kann. Viele mixende DJs vergaßen
aber, daß sich zwischen den Übergängen die wirklich wichtigen Dinge
abspielen, nämlich die Stücke selbst. Das soll nun nicht als
Wiedereinführung einer Inhalt-contra-Form-Debatte verstanden werden,
denn die Freiheit von den Inhalten, die als quasi ewiger Wert
verstanden wurden (und entsprechend lähmend waren), ist ein
gewaltiger Vorzug der jetzt gültigen Medium-Form-Unterscheidung.
Akteure tun permanent nichts anderes, als gewisse Formen innerhalb
eines Mediums zu erzeugen, seien es Töne, Sprache, Pixel oder
sonstige Materialien. Nur sind eben einige Formen klüger gewählt als
andere, denn diese stimulieren nunmal umfassender als andere.
Das Problem
der dauerhaften Aufmerksamkeitserregung
Die neue
Währung ist Aufmerksamkeit, sie ist die Ressource des
Informationszeitalters. Dies gilt am stärksten im System der
Massenmedien und ist oberstes Prinzip der Werbung. Wer im
Informationszeitalter keine Aufmerksamkeit erzeugen kann, existiert
einfach nicht. Selbst die Windsors hatten Mitte der Achtziger Jahre
begriffen, daß ihr relativ funktionsloses Dasein nur weiterlaufen
konnte, wenn sie durch ihre Annäherung an die Presse die öffentliche
Aufmerksamkeit errangen. Weil aber die ganzen neu geschaffenen
Medien um diese Aufmerksamkeit konkurrieren, werden die
Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer. Wir müssen nun erkennen, daß
die moderne Medienwelt unser Gehirn auf sehr professionelle Weise
benutzt. Aufmerksamkeitsmechanismen werden abgekoppelt von
Bewußtseinsvorgängen höherer Ordnung (Reflexionen) und ständig
kurzgeschlossen. Wie man aus der Medienwirkungsforschung weiß, tritt
dies schon bei Schnittintervallen unter drei Sekunden auf. Außerdem
richten wir in der Regel unseren Blick oder unser Gehör auf etwas
Besonderes aus, bevor uns das bewußt ist. Diesen Vorsprung
verschenkten die Werbeprofis natürlich nicht. Die Entwicklung zum
Sensationalismus nahm ihren Lauf.
Hier tritt nun
eine gewisse Komplikation auf. Nachtleben in den Clubs dauert im
Normalfall viele Stunden. Nun ist es auch klar, daß Besucher eines
Nachtclubs nach sehr kurzer Zeit unzufrieden sind, wenn ihre
antrainierten Aufmerksamkeitsprinzipien unterlaufen werden und
einfach zu wenig geschieht. Clubs müssen durch diese Entwicklung
also stärker auf die veränderten Aufmerksamkeitsmechanismen ihres
Publikums achten, denn schließlich wollen sie das fast Unmögliche:
die Aufmerksamkeit über eine ganze Nacht ausdehnen. Dies wurde zur
Hoch-Zeit der Raves über multimediales Bombardement versucht.
Parties wurden professioneller organisiert und ausgestattet als je
zuvor. Das alles trieb die Anspruchshaltungen des Publikums in
ungeahnde Höhen. So wurde dann vorwiegend auf jene Neuheiten und
nicht mehr auf das Publikum geachtet. Gerade diesen
sensationalistischen, kalten und unschlauen Anspruchshaltungen
mußten Clubbesitzer, Clubpersonal und DJs in der Folgezeit begegnen.
Das Schlimmste an diesem Zustand der Übersättigung ist jedoch, wenn
die Übersättigten nicht damit umgehen und diesen Zustand nicht für
sich verwenden können. Wenn sie also den Übergang von Beobachtungen
1. zu Beobachtungen 2. Ordnung nicht schaffen (sprich: Reflektionen
darüber nicht anstellen, wie man beobachtet, was man erwartet). Es
ist natürlich kein Zufall, daß gerade im Nachtleben die Angleichung
von Erwartungen an reale Umstände so schwierig zu sein scheint, denn
Rauschhaftigkeit und Realismus scheinen sich im ersten Moment nur
sehr schwer zu vertragen. Es führt aber nur ein Weg an der Einsicht
vorbei, daß man für sein Vergnügen mitverantwortlich ist: Immer nur
genau dorthin zu gehen, wo Ereignisse so inszeniert werden, als
lebten wir noch in der Techno / House-Revolution. Keine Ahnung, wo
das ist. Das System der Clubkultur ist immer noch reichlich wenig
emanzipiert, als würde die alte Auffassung einer Übergangsphase zum
Erwachsenwerden noch gelten. Das gerade tut sie aber nicht mehr. Ein
eigenes Selbstbewußtsein für ein nicht jugendliches Clubleben
existiert bislang noch nicht.
There is no second peak.
In den Köpfen
der Leute leiten sich alle Rauschmotivationen immer noch von kaum
relativierten, nicht mehr erreichbaren Jugendphantasien ab.
Partyankündigungen und Flyer sind weiterhin an einem Kenntnisstand
orientiert, den eigentlich jeder spätestens mit 23 hinter sich
gelassen hat. Neuer! Aufregender! Sexyer! funktioniert doch schon
lange nicht mehr. Und das nahezu völlige Fehlen von Ironie ist im
Zeitalter von Harald Schmidt, Daisy Dee und Verona Feldbusch doch
ziemlich unverständlich.
Anything gone
Das Leitwort
des Postmodernismus war zweifellos Feyerabends Zitat „Anything goes“.
Man unterschlug allerdings regelmäßig den wichtigeren zweiten Teil „if
it works“. Inzwischen mußte man einsehen, daß eben nicht alles
funktionierte, was im überschwenglichen Gestus des Pluralismus
formuliert wurde. Daher beschreibe ich die Tribalisierung und
zunehmende Ausdifferenzierung der Genres in Subgenres nicht mehr als
eine wirklich überzeugende generelle Perspektive. Wann immer der Zug
der falschen Freunde von einer eben noch gefeierten Stilrichtung
weiterzog, blieben im Regelfall nur noch ein paar etablierte DJs und
Acts übrig, die nach der Hoch-Zeit allerdings nur noch als
Spezialevent, nicht aber als regelmäßige Einrichtung funktionierten.
Denn obwohl es noch unzählige stille Fans dieser Genres gibt, lassen
die sich doch nur zu bestimmten Ereignissen bündeln. So konzentriert
sich in postspezialistischen Kommunikationssystemen wie dem
Clubleben doch wieder fast alles auf die zentrale Tanzbarkeit eines
undogmatischeren House-Beats (von der noch außerordentlich
spezialisierten Drum`n`Bass Fraktion mal abgesehen). Die einzelnen
Genres wurden dann recht undramatisch von vielen DJs als kleine
Versatzstücke in ihr Set eingewoben. Diese Stilfragen können aber
eigentlich keine große Rolle mehr spielen, da sie inzwischen nur
noch Scheindiskurse darstellen. Die grundlegende Dysfunktionalität
im Clubleben kann mit Diskussionen über Stilfragen nicht mehr
geklärt werden. Natürlich existieren außerhalb des Clublebens je
nach sozialem Umfeld nach wie verschiedene Musikrichtungen. Jede
dieser Sparten hat dann eine Entwicklung zu einem eigenen Mainstream
durchlaufen. Im Clubleben etablierte sich schließlich House-Musik
als Mainstream. Nachdem also die Ausdifferenzierung in verschiedene
Styles keinen mehr vom Hocker reißt, kann man beobachten, wie sich
gänzlich unspektakulär wieder an einer gewissen Norm des
Funktionierens orientiert wird. Dieser Funktionalismus verwendet
zwar noch vorwiegend die Leitsprüche der Postmoderne (z.B. Freiheit
von der Norm), ist im Kern aber doch vielleicht eher modernistisch
ausgerichtet. Daher könnte man von einem Wiedereinstieg in eine nun
aber ironischere Moderne sprechen (falls man sich überhaupt noch mit
der eher unfruchtbaren Unterscheidung Moderne / Postmoderne abgeben
will). Denn obwohl man an einen einheitlichen Fortschritt nicht mehr
glauben kann, spricht und verhält man sich inzwischen wieder besser
dezent so, als ob es ihn gäbe. Es gab eine Zeit, da lachten wir über
jeden Fortschrittsglauben. Denn Entwicklungen in der Postmoderne
verliefen in die Breite, in die Diversifikation. Postmoderne und ihr
spezifischer Style der Generation X (und deren Leben in
verschiedensten Mikro-Mythen) vermittelten uns die Gewißheit, in der
Endzeit (relaxed version) zu leben. Endzeit stimmt zwar immer noch,
aber inzwischen nennen wir es besser Gegenwart. Inzwischen mutierte
der einstmals hohe Wert der Diversifikation zur oberflächlichen
Verkaufsbotschaft und dahinter schimmerte unübersehbar der Markt
durch, dessen Prinzipien außer Fußballfans, Beamten, Stahlarbeitern
und Autonomen jeder gut zu kennen scheint. Denn diese hatten
besonders deutlich den Übergang von der Leistungsgesellschaft (und
evtl. deren Bekämpfung) in die Erfolgsgesellschaft verschlafen. Aber
auch die Erfolgsgesellschaft benötigt den Rausch, vielleicht jedoch
in anderen Formen.
You can go your own way
Seit den
achtziger Jahren wurde ein Trend immer deutlicher. Das damals eher
jugendfeindliche und starre Wirtschaftssystem integrierte zusehends
jugendliche Ideen. Schließlich wurden die jugendlichen Ideale als
bevorzugte Werbebotschaften eingesetzt. Es wurde nicht mehr
hauptsächlich mit Hausfrauen, sondern mit jungen schönen Menschen
geworben. Den Jugendlichen standen nun verstärkt Möglichkeiten zu
eigenen Unternehmungen offen. Inzwischen sind die gesellschaftlichen
Abläufe so hochdynamisch geworden, daß es schon ein flexibles,
schnell lernfähiges junges Gehirn benötigt, um bei den rasanten
Entwicklungsschritten mithalten zu können. Junge Menschen werden
jetzt besonders gebraucht, folglich haben sie tendenziell mehr zu
tun als früher und können nicht mehr allzu viel Zeit mit ungesunden
oder unproduktiven Tätigkeiten verschwenden. Außerdem werden die
Zeitanforderungen an Projekte und Unternehmungen so hoch, daß immer
mehr Zeit für Tagesgeschäfte aufgewendet werden muß. Viele zogen
sich aber auch aus dem Nachtleben zurück, weil sie an ihren
Erwartungshaltungen gescheitert waren. Die Zahl derer, die für ein
andauerndes Nachtleben in Frage kommen, wurde so zusehends
reduziert. Und diese hatten auch immer weniger Geld zur Verfügung.
So ging man wieder vor allem an den Wochenenden weg, während der
Woche kam das Nachtleben weitgehend zum Erliegen.
III. Wie kann
man dieses Dilemma nun auflösen?
1. Abkehr von der streng monotonen, baßlastigen Track-Kultur
Der Aufstieg
des Massenphänomens Tanzmusik und der Clubkultur ging fast
notwendigerweise mit dem Aufstieg der Bass-Kultur einher. War die
Tanzmusik der Siebziger deutlich songorientiert und symphonisch (und
mit hohen Stimmen versehen siehe Bee Gees) so bahnte der Spruch
„Turn up the bass“ in den Achtzigern den Weg für einen dominanten
Bass. Techno reduzierte sich häufig auf ein monoton stampfendes
Bum-Bum. Jungle / Drum & Bass differenzierte dann die
Bass-Spielarten noch aus, blieb aber ähnlich reduktionistisch.
Dieser monotone Geräuschraum war der Inbegriff der inzwischen
abflauenden Massentanzkultur der Raves. Auch in der älteres Publikum
ansprechenden Clubkultur setzte sich mit Ausnahme von Phänomenen wie
Acid Jazz und TripHop die Track-Kultur durch (bei letzteren nur
bedingt), wenn auch mit deutlich reduziertem Bass-Einsatz. Die
Strömung der monotonen spartanischen „Mangel“-Tracks flaut spürbar
ab. Die dort gültigen Prinzipien des strengen Reduktionismus
vermögen die verschiedenartigen Bedürfnisse der Menschen nicht mehr
einzubinden. Das Monotone ist nur interessant, wenn es eine gewisse
Erstmaligkeit besitzt oder wenn gewisse Drogen dies erfordern. Nach
dem Abklingen der Ecstasy-Kultur wird dieser Mangel nicht mehr
bejubelt, sondern als tatsachliches Defizit erkannt, als Mangel an
Präsenz. Denn schlechtgemachte Reiz- oder genauer
Erfahrungsdeprivation (das wurde es immer mehr) verhindert das
Erleben der umfassenden Gegenwart. Offensichtlich haben inzwischen
sehr viele keine Lust mehr auf Musik, die ohne Drogen langweilig
sein muß. Wo bleibt denn da auch die Lebensqualität? Daher werden in
letzter Zeit Stücke bevorzugt, die Monotonie durch kleine
spannungssteigernde Elemente ablösen. Filterhouse ist dafür ein
gutes Beispiel. Da diese `stupid filter tricks´ etwas Ereignishaftes
simulieren, haben sie genau die oben angesprochene
gegenwartsbefördernde Wirkung. Das sich langsam anschleichende
Aufdrehen der Filter erzeugt eine Differenz zur Homogenität Ebenso
ist eine verstärkte Annäherung an Melodien und eine Verwendung von
warmen Disco Cut-Up Schnipseln zu bemerken. Und jeder muß
feststellen, daß vor allem songorientierte Kompositionen momentan
den meisten Zuspruch finden. House läßt sich jetzt also auch als
Song und nicht nur als Track begreifen. Klänge, die den Raum
auskleiden, statt ihn stumpf zu verengen. Was der Techno-Bewegung
lange Zeit als verachtenswerte Tradition erschien und unbedingt
überwunden werden sollte, schleicht sich langsam in neuer Form
wieder ein. Das ausschließlich als eine eskapistische Rückwendung zu
bewährten Traditionen zu sehen, macht nicht viel Sinn. Denn die
verhältnismäßige Naivität vergangener Zeiten erreichen zu wollen,
ist kein realisierbares Ziel. Vielmehr ließe es sich als
nichtelitärer abstrakter Situationismus beschreiben, der nun aber
auf reichhaltigere, angenehmere Situationen abzielt.
2. Situative
statt außersituative Feedbackschleifen
Um Gegenwart
erleben zu können, benötigt es gelungene lokale Feedbackschleifen.
Die Kommunikation sollte in den Situationen besser vernetzt werden.
Sich durch Verweise auf situationsexternes Wissen („da hab ich schon
bessere DJs erlebt“ oder „Mann, ist das wieder ein fades Publikum“)
herauszumogeln, nützt wenig. Kurz gesagt, situativ ungeschickte
Erwartungshaltungen führten zu dieser Erstarrung im Nachtleben. Denn
wenn die Situation nicht zur eigenen Erwartungshaltung paßt, dann
gibt fast jeder erst einmal der Situation schuld. Diese
Selbstgerechtigkeit klingt noch in viel zu vielen Kommunikationen
an. Natürlich geht es nicht ohne Stimulation, daher muß auch die
Einfallslosigkeit der meisten Clubbetreiber zu Ende gehen. Ohne
„food for thought“ durch zeitgemäße Musik- und Raumkonzepte kann
man nur sehr schwer Anregungen für Kommunikation liefern. Überall
da, wo Gedanken mangels Stimulation und Freiraum nicht zu
Kommunikation führen können, verkommen sie zu geheimen,
unzufriedenen Gedanken, die das jeweilige Kommunikationssystem bald
ganz beenden könnten. Die mangelnde Beachtung der grundsätzlichsten
Funktion des Bewußtseins, Transformation von Wahrnehmung in
Kommunikation, zahlt sich langfristig also nicht aus. Nun ist es
aber andererseits so, daß der Kreis der Vielausgeher kleiner und
damit auch familiärer als früher wurde. Und das kann der situativen
Vernetzung wieder nur gut tun.
3. Abkehr von
der homogenen Verführungsklasse
Jahrzehntelang
konnten sich die Menschen im Glauben an den umsorgenden Sozialstaat
auf eine ausreichende Fremdbestimmung verlassen. Man mußte nur
seinen Job machen, dann wurde man mit Rente belohnt. Die Sicherheit
einer homogenen Versorgungsklasse beginnt sich jedoch zusehends zu
verflüchtigten. Ebenso mußte man sich im Nachtleben nur einen
interessanten neuen Club aussuchen und wurde dort dann ausreichend
verführt. Inzwischen ist man aber vorrangig auf die eigene
Vergnügungskompetenz angewiesen. Und das klappt meist dann am
besten, wenn man die richtigen Orte wählt, von spießigen
Erwartungshaltungen, Ungeduld und Mißtrauen Abstand nimmt und sich
entspannt auf den Abend einläßt. So gilt auch in den Clubs, was sich
zusehends als fundamentalster Wert durchsetzt: Interesse. Finde
heraus was dein eigenstes Interesse ist und verfolge dies dann. Der
Rest ist Zeitverschwendung. Denn es sieht so aus, als bliebe dies
auch nach dem Tod die wichtigste Antriebskraft. Wenn man sich also
ins Nachtleben begibt, bedeutet dieses Interesse logischerweise
(wenn man den Code rauschhaft / nicht rauschhaft akzeptiert), die
für einen selbst angenehmste Form der rauschhaften Kommunikation zu
finden. Es könnte sonst sein, daß man seinem Interesse
ungeschickterweise am falschen Ort nachgeht.
4. Ausrichtung
an der reinen Gegenwart
Gegenwart ist
nicht mehr das, was wir uns früher darunter vorstellten, sie ist
nicht mehr im herkömmlichen Sinn als progressiv oder modernistisch
beschreibbar. Auf jeden Fall ist sie inzwischen nachgeschichtlich zu
nennen, denn Geschichte war immer eine Geschichte des „Wir“. Mit dem
Niedergang der großen Kollektive wurde auch die lineare
biographische Geschichte gleich mitentsorgt. Das kann man daran
erkennen, daß man immer weniger Interesse an den Lebensläufen der
anderen hat. Nur noch das, was in die gegenwärtige Situation paßt,
kann verwendet werden. Gegenwart ist nicht mehr das nur jeweils
Neueste. Gegenwart heute integriert mehr oder minder gleichwertig
alle co-ontogenetischen Vergangenheiten der Beteiligten. Alle
während der zusammen verbrachten Lebenszeit gemachten Erfahrungen
sollten sich durch einen den Assoziationsregeln folgenden roten
Faden bündeln lassen. Gerade die Diskrepanz zwischen dem
ausdifferenziertem System der Clubkultur (mit zunehmender Mißachtung
der Interaktionen) und der tatsächlich in den Situationen
stattfindenden Interaktionen können schlaue Zitatmeister in den
größtmöglichsten Gewinn verwandeln, indem sie die in den Köpfen
verborgenen Wegmarken der Ausdifferenzierung stimulieren. Denn die
bisherige Methode, dies über Neuheiten zu versuchen, schafft das
immer seltener. Denn wirkliche Neuheiten sind seltene, vom
Aussterben bedrohte Tiere. Ganz entscheidend dabei ist aber das Set
des DJs als zeitübergreifende und Stilgrenzen überwindende
Perspektive. Er hat die Möglichkeit, durch das Aufgreifen alter
Stücke den Kommunikationsraum zwischen den Menschen zu weiten und
durch die dann entdeckten Gemeinsamkeiten eine möglichst grenzenlose
reichhaltige Gegenwart zu erzeugen. Eine Gegenwart, die wie
selbstverständlich über die Kraft einer Vielzahl gespeicherter
Erinnerungen verfügt. Erinnerungsraumsurfen mit gleichberechtigter
Geltung der „aktuellen“ Gegenwart. Was dann im Regelfall entsteht,
ist Freiheit.
Eine besondere
Rolle kommt dabei auch der visuellen Raumaufbereitung zu.
Einrichtungen und Dias, sollten das Kriterium eines modernen Mythos
erfüllen. Mythen sind kollektive Erzählungen, die meist um eine
zentrale Idee kreisen. Das Weltall, Sonnenuntergänge und andere
Panoramen, Kontaktanzeigen, Las Vegas, Brasilia, Wissenschaft,
Aktienmärkte, Zeit, Guildo Horn oder (als Selbstthematisierung) das
Clubleben sind Beispiele für solche Mythen. Jede Nacht ein anderer
Mythos. Eine Mythos hat wenig mit sensationeller Neuheit zu tun,
sondern stellt im Gegenteil das allen Bekannte dar.Wer sich etwas in
der Medienwelt umsieht, wird bemerken, daß weitreichend von
avantgardistischen Neuheiten auf Neuaufbereitungen von Mythen
umgestellt wurde (Aufschwung der Katastrophenfilme, Beetle usw.) Das
hat den Vorteil, daß bereits etwas in den Köpfen der Menschen
steckt, das nur kraftvoll wiedererweckt werden muß. Das ist weniger
aufwendig als eine neue Kategorie einzuführen. Die zeitgemäße
Verwendung eines Mythos verknüpft Ideenfragmente aus den
unterschiedlichsten Einzelbereichen zu einem stimmigen
Gesamtkonzept, denn inzwischen überzeugen nur noch diese (gib den
Menschen ein einziges sichtbares Manko und sie werden sich bevorzugt
darauf stürzen). Mit dem Wechsel von Sensation zu Mythos und wenn
man so will: vom attackierenden Marktgeschrei der Designideen zum
angenehmen Wohlgefühl, geht auch eine stärkere Betonung der
Überzeugung gegenüber der Manipulation einher. Da Information erst
im Kopf des "Empfängers" entsteht, werden dessen
Erwartungsstrukturen, dessen Interessen immer wichtiger. Man könnte
es Kunden- oder Benutzerfreundlichkeit nennen. Die Clubkonzepte
mußten dies früher nicht so sehr beachten, ein neuer Laden war
ohnedies sofort gefüllt. Doch das scheint noch selten zu klappen.
Auch als DJ kämpft man ohne Unterstützung eines stimmigen
Clubkonzepts mitunter vergebens.
Bei alldem
wird klar, daß wir einen neuen Zeitbegriff benötigen. Zeit ist nur
eine gehirninterne Konstruktion eines jeden einzelnen Beobachters,
ein Bluff, auf den wir permanent hereinfallen, denn das, was wir
Gedächtnis nennen, ist ein Vergleich zwischen aktuellen parallelen
Verarbeitungsmechanismen. Zeit ist also eine nachträglich
eingeführte Operation des Organismus, um Ereignisse verknüpfen zu
können. Streng genommen besteht sie nur aus einem
diskontinuierlichen Strom aus Ereignissen. Die Welt zeigt sich also
nur in mehr oder minder wahrscheinlichen punktuellen
Einzelereignissen. Weil Organismen aber gewisse Taktungen brauchen,
errichteten sie allerdings je nach Erfordernissen unterschiedliche
Eigenzeitkreise. Jedes einzelne Lebensinteresse hat seine günstigste
Zeitkonstruktion. Die gelungenste Zeitkonstruktion im Club ist
idealerweise die Auflösung von Zeitkonstruktionen, also
Zeitlosigkeit. DJs haben eine Position inne, in der sie den Zuhörern
ihre im Normalfall engen Zeitkonstruktionen vor Augen führen können,
daher sollten also beispielsweise ihre geradezu sprichwörtliche
Feigheit vor bekannten, alten Stücken verlieren. Das Publikum wehrt
sich anfangs aber mitunter sehr heftig mit abschätzigen Kommentaren
gegen diese Erweiterung (so kann man im Regelfall erst später mit
älteren Stücken beginnen). Das sollte DJs aber nicht beirren, denn
eine für alle gewinnbringende Perspektive wird in der Regel nach
einer gewissen Zeit erkannt.
Es sollte die
Grundüberlegung jedes Menschen und auch DJs sein: reduziere ich mit
meinen Handlungen die Möglichkeiten der anderen (will ich sie nur
dazu bringen, daß sie das denken, was ich denke) oder erweitere ich
ihre Freiheiten. Ich kenne bislang allerdings nur wenige DJs, die
Freiheiten fördern wollen. Brilliante DJs vermögen es nämlich, die
Menschen dazu zu verführen, sie selbst zu sein. Und das geht nicht
allein mit Erstmaligkeit, sondern bedarf auch der Bestätigung der
Strukturen des Hörers.
Schluß
Auf diese
Krisenzeit reagieren die meisten noch mit Unlust,
Schuldverschiebungen oder Ratlosigkeit. Denn wenn ein ganzes System
nicht mehr funktioniert, ist selbstverständlich der einzelne
überfordert. Die angesprochenen Nachtleben-Systeme (andere
funktionieren noch ganz gut z. B. Kino, Restaurants) sind nur einige
Beispiele von vielen, die durch das aufdrehende Wirtschaftssystem
und das System der Massenmedien an die Wand gedrängt wurden. Nachdem
das Clubleben anfangs (besonders in Berlin) sehr stark von den
Massenmedien profitierte (die ganze Welt war auf die Clubszene nach
der Maueröffnung neugierig geworden), wendete sich mit sinkendem
Informationswert langsam das Blatt. So stecken wir momentan in einer
Gesundschrumpfungskrise, wo diejenigen, die immer noch häufig
weggehen, immer genauer wissen, warum sie das tun und was sie
wollen. Die Gespräche werden jedenfalls immer eigentlicher, immer
besser. Es mehren sich die Indizien, daß sich die oben
angesprochenen Übergänge langsam vollziehen. Es gibt doch einige DJs,
die die gegenwärtigen Strömungen richtig zu deuten wissen und wieder
deutlich gelungenere Sets spielen, es gibt einige Clubs, die immer
angenehmere Räumlichkeiten bieten für Abende reiner Gegenwart. So
kann es nur heißen: willkommen zurück in der Gegenwart. Das ist
alles, was im Nachtleben noch übriggeblieben ist. Gegenwart war
schon immer die besondere Stärke des Nachtlebens, vor allem zur
Blütezeit der Techno-Bewegung. Durch das Festhalten an unzeitgemäßen
Mustern für einen Moment verdrängt, setzt sie sich auf andere Weise
langsam wieder durch. Alte Konzepte reichen nur selten zur Erzeugung
von Gegenwart aus. Wenn die Clubkultur aber als eigenständiges
System auch wieder expandieren soll, dann sollte sie sich nicht nur
auf ihre alten Stärken besinnen, sondern auch ihre eigenen
Ausdifferenzierungen selbstreferentiell auf kluge Weise in ihr
System miteinzubauen.
fin 2001
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